DEM CHOR GEHÖRT DIE GROSSE BÜHNE
Modest Mussorgskys „Chowanschtschina“ am 23. November 2014 als Premiere in der Staatsoper/STUTTGART
Foto: A.T.Schaefer/ Staatsoper Stuttgart
Der von Johannes Knecht hervorragend einstudierte Opernchor sowie der Kinderchor machten der Staatsoper an diesem Abend alle Ehre und man merkte, warum dieses Werk eine Choroper ist. Stuttgart wurde an diesem Premierenabend zur heimlichen Chorhauptstadt Deutschlands. Allerdings hat der Komponist nur einen Klavierauszug angefertigt, Dmitrij Schostakowitsch und Igor Strawinsky (Finale) schufen die Instrumentation. Die Regisseurin Andrea Moses geht bei ihrer Inszenierung der tiefen gesellschaftlichen Krise der damaligen Zeit nach und schafft damit beklemmende Bezüge zur Gegenwart sowie zum dramatischen Geschehen der Volksaufstände im Jahr 1989. Szenisches Zentrum der Produktion ist der Rote Platz in Moskau. Hier gibt es gesellschaftliche Aufmärsche, sektiererische Verkündigungen, spontane Erhebungen und deren brutale Niederschlagung. In Schutz und Schatten des Kreml existiert dabei auch eine illustre Informationsbörse. Der Kreml selbst wird mit Bildern des russischen Malers Aleksandr Kosolapov im Stil von Werbebildern der kapitalistischen Warenwelt vermischt und skurril beschriftet („Coca Cola“, „McDonald’s“), was nicht zu den glücklichsten Einfällen gehört. In der oberen linken Ecke sieht man die gespenstische Figur eines Gehenkten, man ahnt drohendes Unheil. Stark arbeitet Andrea Moses die Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Figuren heraus. Der Ausstatter Christian Wiehle hat für diese Ideen großformatige Räumlichkeiten erfunden, die die unendliche Weite der russischen Landschaft symbolisieren sollen. Allerdings überzeugen diese szenischen Ansätze nicht immer. Packend gelingen diese Passagen nur bei den großen Massenszenen. Dramaturg Thomas Wieck und Videokünstler Niklas Ritter entwickelten diese Inszenierung für das Anhaltische Theater Dessau und das Deutsche Nationaltheater Weimar. Mit der Stuttgarter Besetzung ist sie neu erarbeitet worden. Gerade die eingeblendeten Video-Sequenzen sind nicht immer unproblematisch, denn sie lenken den Zuschauer ab und schaffen oft keinen inhaltlichen Zusammenhang. Einmal ist sogar eine Hochzeitszeremonie des britischen Königshauses zu sehen. Die niederländische Mezzosopranistin Christianne Stotijn kann als leidenschaftliche Marfa (Witwe und Altgläubige) ihre Liebe zum Fürsten Andrej Chowanskij (strahlkräftig: Mati Turi) mit voluminösem Timbre nur schwer verbergen. In der von Catriona Smith mit glühender Emphase verkörperten Susanna hat sie eine starke und unerbittliche Gegenspielerin, die ihr deswegen heftige Vorwürfe macht. Die Strelitzen steigerten sich in grandiosen Chorauftritten in ständig größeren dynamischen Bögen in ihre Gegnerschaft zum Zaren Peter immer mehr hinein. Dazu färbte sich auch die es-Moll-Stimmung in der Musik zu enormer klanglicher Präsenz. Gelegentlich denkt man bei Schostakowitschs glutvoller Bearbeitung auch an dessen Oper „Lady Macbeth von Mzensk“. Einmal wird sogar ein überdimensionaler Eisbär hereingeschoben, auf dessen Rücken sich die gewaltigen Auseinandersetzungen zwischen den Fürsten abspielen. Das hat Biss. Ein weiterer Höhepunkt der Inszenierung ist schließlich die brutale Ermordung Andrej Chowanskys durch den von Ashley David Prewett (Bariton) ungeheuer emotional verkörperten Schaklowityi. Er wird in seinem riesigen Himmelbett zum Begräbnis gefahren, begleitet von seinen schockierten Mätressen. Ein grotesk-überspitzter Moment. Höhepunkt des szenischen Geschehens ist letztendlich der freiwillige Flammentod der Altgläubigen, den diese wählen, obwohl Zar Peter sie begnadigt hat. Da beteiligte Andrea Moses das Publikum ganz unmittelbar: Plötzlich flogen die Türen auf und der Staatsopernchor war im Zuschauerraum präsent. Das besaß große dramatische Geschlossenheit. Der Wucht dieser Wiedergabe konnte sich niemand entziehen, zumal noch im Hintergrund schauerliche Fanfaren zu hören waren. Die raffiniert voneinander getrennten Häuserfassaden vermitteln ein drastisches Bild des gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Es ist ein gutes Regiekonzept von Andrea Moses.
Eine ausgezeichnete Leistung bot ferner der russische Bass Mikhail Kazakov als Dosifej, der sich im Grunde genommen immer wieder als Streitschlichter betätigte. Zwietracht und Irrwahn des russischen Volkes werden bei dieser konzentrierten Inszenierung auf die Spitze getrieben.
Das exzellent musizierende Staatsorchester Stuttgart unter der impulsiven Leitung von Simon Hewett reagierte minuziös auf das Bühnengeschehen. So begriff man als Zuhörer auch, wie stark Mussorgsky hier die russische Folklore in seine Komposition mit einbezogen hat. Marfas Lied vom „Weißen Schwan“ blieb mit intensiver Melodik besonders positiv im Gedächtnis, weil Christianne Stotijn die ergreifende Schlichtheit der Komposition in bewegender Weise betonte. Sektierergebete waren ebenfalls nuancenreich herauszuhören. Die verschiedenen Handlungsebenen hat Andrea Moses bei dieser Inszenierung geschickt miteinander verzahnt – und Simon Hewett folgte ihr mit dem Staatsorchester Stuttgart und dem wunderbaren Chor wiederholt in eindringlicher Weise. Der politischen Handlung (die der von Askar Abdrazakov mit sonorem Bass dargestellte alte Fürst Chowansky mit seinen Strelitzen und seinen beiden Gegenspielern Schaklowityi und dem von Matthias Klink ausdrucksstark verkörperten Fürsten Golizyn repräsentieren) folgen der überaus explosiv dargestellte Konflikt zwischen Kirche und Staat, die außer Rand und Band geratene Ebene des Volkes und die ungestüme Liebesgeschichte zwischen Marfa und Andrej Chowansky. Der „Saufchor“ der Strelitzen besaß bei der Aufführung ebenfalls starke charakteristische Präsenz. Und auch die komplizierte Leitmotivtechnik wurde von Simon Hewett und dem Ensemble einfühlsam entschlüsselt. Man stellte überrascht fest, wie stark hier die Wortgrenzen die Melodiegestalt beeinflussen. Simon Hewett sorgte dafür, dass auch bei den anderen Sängerinnen und Sängern Daniel Kluge (ein Schreiber), Rebecca von Lipinski (Emma), Thomas Elwin (Kuska), Eric Ander (Warssonofjew), Daniel Kaleta (erster Strelitze) und Sasa Vrabac (zweiter Strelitze) alles im Gleichgewicht blieb. Mussorgskijs akustische Besonderheiten traten bei dieser ausgefeilten Interpretation immer deutlicher hervor. Denn er wandert in eindrucksvoller Weise zwischen der einen Zentralton einkreisenden Melodik der russischen Volksmusik und dem modulationsfähigen Aufstocken von Quinten in der westlichen Harmonik hin und her. Die unheimliche Prophezeiung Marfas im zweiten Akt sowie das erste Bild des vierten Aktes mit der imposanten Figur des Iwan Chowansky gerieten bei dieser Premiere zu unvergesslichen Szenen. Das Abrupte der klanglichen Rückführungen und die rhythmisch ständig ausufernde harmonische Sprache wirkten beklemmend. Überhaupt blieb das Gleichgewicht zwischen den Singstimmen und dem Orchester stets gewahrt. In das feine Gewebe von Impulsen trat die Melodie, sie beleuchtete geheimnisvoll das rhythmische Geschehen und führte zu immer gewaltigeren Klangfortschreitungen. Dies stellte man besonders bei der Verbrennungsszene am Schluss fest, wo der Staatsopernchor rechts und links vom Zuschauerraum ganz langsam auf die Bühne schritt. Seine enorme Strahlkraft begeisterte das Publikum. Zuletzt fielen alle entseelt nieder, zurück blieben nur gespenstische Nebelschwaden (Lichteffekte: Alexander Koppelmann). Das Melos des Komponisten mit seinen strukturierten Bindungen kam dabei am besten zum Ausdruck. „Ich aber will kein gedüngtes Land beackern, sondern ich lechze nach Neuland…“, meinte Mussorgsky im Jahre 1872 über sein „musikalisches Volksdrama“, in dem er die politischen und religiösen Kämpfe im Russland des 17. Jahrhunderts darstellen wollte, bevor Zar Peter I. die Macht übernahm. Die Oper „Chowanschtschina“ („die Chowanskij-Affäre“) von Mussorgsky wurde an diesem Abend zum ersten Mal in Stuttgart aufgeführt. Mit dieser Produktion setzt die Oper Stuttgart ihren thematischen Schwerpunkt Russland fort. Das Publikum quittierte diese Stuttgarter Erstaufführung mit Ovationen. Gegen das Regieteam gab es nur zu Beginn vereinzelte Proteste. Fazit: Andrea Moses ist hier alles in allem ein großer Wurf gelungen, denn sie vermag den Sängerinnen und Sängern bei ihrer Darstellung auch starke schauspielerische Qualitäten zu verleihen. So kam während der Aufführung fast filmische Spannung auf, die sich immer mehr steigerte. Man langweilte sich keine Sekunde. Gerade die Szenen vor dem geschlossenen Vorhang ließen an hochdramatischer Schlagkraft nichts zu wünschen übrig.
Alexander Walther