Premiere des Theaters Rampe, der Staatsoper und des Schauspiels am 19.9. 2019 „Motor City Super Stuttgart“ in der Baustelle von Stuttgart 21/STUTTGART
EINE STADT DER ZUKUNFT
„Ist mal einer treu, betrügen sich Millionen ohne Scheu“ lautet das Motto dieser mutmachenden Dystopie-Sinfonie von und mit Schorsch Kamerun und ganz vielen utopiefreudigen Stuttgartern. Schorsch Kamerun überzeugt hier als Sänger der Hamburger Band „Die Goldenen Zitronen“, der zusammen mit den Stuttgarter Philharmonikern unter der inspirierenden Leitung von Viktoriia Vitrenko dieses fantasievolle, fluxusgesättigte Baustellenwerk zum Leben erweckt. In der Stuttgart-21-Baustelle werden auf jeden Fall die Nervenbahnen lahmgelegt, wobei Fotos und Selfies gemacht werden dürfen. Zu den Staccato- und Crescendo-Akzenten des Orchesters intoniert der Chor „Wir bauen eine neue Stadt“ – und ein asiatisches Glockenspiel schafft eine irisierende Atmosphäre auf dem riesigen Baustellen-Areal. Da kann man dann in subtiler Weise nachvollziehen, wie eine Stadt klingt, die in die Zukunft strebt. Bei den Ostinato-Passagen trumpft der Orchesterapparat gewaltig auf: „Die Summe aller Bemühungen ist das Auslassen von Zufall!“ Man sieht Obelix und die Riesenschildkröte, sogar ein imaginäres Hochzeitspaar wird plötzlich aufgetrieben. Das Ganze treibt reichlich surrealistische Blüten. Die riesige Umgrabung „Stuttgart 21“ mutiert zu einem seltsamen futuristischen Überführungsmoment: Spektakuläre Zerrissenheit manifestiert sich sogar bei den glamourhaften Auftritten in diversen Silberkostümen oder beim suggestiven Erscheinen des Herrn mit dem Zylinder. Unter den riesigen Kelchen, die einmal das neue Bahnhofsdach tragen sollen, entwickelt sich diese Stadt zu einer großen Maschine, einem gewaltigen Klang- und Raumkollektiv: „Du bist ein Arschloch, an dem Gold an den Händen kleben bleibt…“ Der Begriff „Motor City Super Stuttgart“ und die Magnetregion „Detroit Techno City“ ergänzen sich hier auch musikalisch. Da fehlt selbst Georg Friedrich Händels „Ombra mai fu“ als Largo aus der Oper „Xerxes“ nicht. Schorsch Kamerun erweist sich dabei als ein ausgesprochen einfallsreicher und versierter Komponist, der auch von raffinierter Instrumentation einiges versteht. „Gibst du mir Steine, geb‘ ich dir Sand!“ lautet die seltsame, rhythmisch verfremdete Devise dieser ungewöhnlichen Sinfonie (Ausstattung: Katja Eichbaum; Co-Komposition: Ui-Kyung Lee). Als Medium gefällt die subtile Sopranistin Josefin Feiler, das Maskottchen mimt Daniela Walther ausdrucksvoll, Merlin Pohse ist der eigenartige Maschinist, der sich plötzlich verwandelt. So gerät die gesamte Baustelle zu diesen rhythmischen Fortspinnungen in Bewegung. In weiteren Rollen überzeugen Magda Agudelo als Katastrophenexpertin, Harry Bednarz als Flaneur, Thorsten Gohl als angriffslustige Langsamkeit, Jeiny Cortes als Braut, Simon Kluth als Bräutigam sowie Viola Marien als Mandala-Designerin und Vulkantänzerin. Zahlreiche weitere Protagonisten treten zudem als Römer und Zufallsbegrüner, mutmachende Dystopie-Planer, Extremtouristen und Superentdecker, „Ruin Porn Promotion“, Badegesellschaft und futuristischer Chor auf (Rohrer-Lied-Ensemble). Man sieht einen informativen Filmausschnitt von „Wendeschleife Schwabstraße“ von Michael Gompf. So fließen die thematischen Verbindungslinien an diesem Abend durchaus sinnvoll zusammen. Dies ist selbst dann der Fall, wenn exotische Pflanzen hereingetragen werden. Der Klima-Skandal ist trotzdem nicht zu verhindern.
Alexander Walther