Stuttgarter Ballett
„TÄNZERISCHE HÖHEPUNKTE“ 27.11. 2020 (Live Stream) – wertvolle Repertoire-Ergänzungen
Doppeltes Pech: bereits im Mai war der ursprüngliche Premierentermin dieses Programms der Theaterschließung zum Opfer gefallen, jetzt traf der erneute Lockdown auch den Ersatz-Termin. Da die Künstler diesmal proben durften, wurden die erarbeiteten Stücke nun wie von zahlreichen anderen Theatern inzwischen auch eingeführt, als Live stream präsentiert – mit nicht beteiligten Tänzern und weiteren Mitarbeitern der Württembergischen Staatstheater als zumindest etwas lebhafter Ersatz-Kulisse für den Applaus.
Vor den beiden Novitäten fürs Stuttgarter Ballett stand am Beginn die Neueinstudierung von Jiri Kylians 1989 beim Nederlands Dans Theater I uraufgeführten und 2017 erstmals hier präsentierten „FALLING ANGELS“, dessen musikalische Basis Steve Reichs von vier Musikern live in Gang gesetztes „Drumming/Part I ist und den Puls der Choreographie wesentlich bestimmt. Die acht Tänzerinnen Angelina Zuccarini, Jessica Fyfe, Veronika Verterich, Anouk van der Weijde, Daiana Ruiz, Elisa Ghisalberti, Fernanda de Souza Lopes und Paula Rezende bewegen sich in schwarzen Trikots nach einem lautlosen Schreiten in den Vordergrund in einzelnen Lichtquadraten des dunkel gehaltenen Raumes, formieren sich einmütig, bis nacheinander die eine oder andere von ihnen ausbricht, um sich später wieder einzureihen. Die Dynamik, die durch wiederholtes Vor- und Zurückpreschen oder die wechselnd nach vorne und nach hinten geneigten Körper wie in Wellen durch die Gruppe geht, beeindruckt einige Zeit bis dieser Mechanismus mit zunehmender Dauer eine leichte Ermüdung bewirkt, doch findet Kylian noch rechtzeitig zum etwas abrupten Ende. Der soghafte und für die Spannungshaltung der Choreographie wichtige Rhythmus der Trommeln kommt am Bildschirm über Lautsprecher nur sehr eingeschränkt zum Tragen.
Erotisch weich und elegant: Elisa Badenes und Jason Reilly in „Petite mort“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Aber dennoch ein Dankeschön an den renommierten Choreographen, der die Freigabe für den stream nicht nur für dieses, sondern auch für die nachfolgende Stuttgarter Erstpräsentation seines „PETITE MORT“ erteilt hat. Bald 30 Jahre alt ist dieses im Auftrag der Salzburger Festspiele mit Musik von Mozart in dessen 200.Todesjahr 1991 entstandene Stück, das zu Kylians Schwarzweiß-Balletten gehört. Die farblosen, Korsagen und Unterhosen ähnelnden Kostüme von Joke Visser spielen dem erotischen Programm dieser Kreation gemäß der Bedeutung des Titels, hinter dem sich auf Deutsch übersetzt der Orgasmus verbirgt, auf unaufdringlich dezente Art bei. Etwas eigentümlich erscheint das spielerische Hantieren der Männer mit Säbeln, wobei diese mal wie eine geschwungene Trophäe, dann wie ein Hindernis eingesetzt werden. Die Doppeldeutigkeit wie auch der jederzeit elegant bleibende Bewegungsfluss zeichnen Kylian wieder einmal als einen der Großen des Balletts aus, besonders wenn sich dann nach wiederholtem Einsatz eines die Frauen erscheinen und dann wieder verschwinden lassenden Tuches Paare zusammenfinden. Seitens des Stuttgarter Balletts auch für künftige Aufgaben fix gekoppelte Paare machen es möglich, dass seit dem ersten Lockdown im März endlich wieder Pas de deux zu erleben sind. In einigen erotischen Haltungen und im Verhaltenen Spannung erzeugenden Motionen entwickelt das auch ohne Live-Knistern am Bildschirm erstaunliche Reize. Die beiden getragenen Mittelsätze aus Mozarts Klavierkonzerten A-Dur KV 488 und C-Dur KV 467, gespielt von Andrej Jussow und Musikern des Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Wolfgang Heinz, geben der Choreographie den idealen zeitlosen harmonischen Rahmen. Von den sechs Paaren sind Elisa Badenes und Jason Reilly als besonders starke und doch so leicht wirkende Kombination sowie Aurora De Mori und Matteo Miccini als hervorstechend klar und sinnlich tanzendes Beispiel hervorgehoben. Erwähnt gehören indes auch die weiteren vier Duos: Rocio Aleman/David Moore, Agnes Su/Adhonay Soares da Silva, Anna Osadcenko/Marti Fernandez Paixa, Vittoria Girelli/Louis Stiens.
Mehrere Korsett-Roben auf Rollen, die von den Frauen geschoben und spielerisch manipuliert werden und am Ende als leere Deko zurück bleiben, führen im direkten Kontrast die erotische Befreiung im Tanz umso eindringlicher vor Augen.
Spannend verführerisch: Hyo-Jung Kang und Ciro Ernesto Mansilla in „Le jeune homme et la mort“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Zu diesen beiden Kylian-Preziosen gesellte sich ebenfalls als hiesige Erstaufführung und kaum zu glauben, als sehr verspäteter Einzug einer Choreographie von Roland Petit ins Stuttgarter Repertoire dessen Zwei Personen-Drama „LE JEUNE HOMME ET LA MORT“ auf Grundlage der Geschichte von Jean Cocteau. Als es 1946 im Theatre des Champs-Elysées das Licht der Welt erblickte, hatte die surreale Handlung in der Darstellung durch eine mit ausdrucksstarken Alltagsgesten angereicherte bzw. harte Kontraste zur Basis der Danse d’ecole aufweisende Choreographie einen für damals ungewöhnlich modernen Anstrich. Selbst heute entlockt dieser Spagat noch die eine oder andere Überraschung, obwohl die Gesamtgestaltung in einem realen Bühnenbild (Georges Wakhévitch) doch deutlich dem Stil einer früheren Zeit huldigt. Allein schon die erste Pose beim Öffnen des Vorhangs ist außergewöhnlich: ein junger Mann in Jeans-Latzhose hängt rauchend quer mit dem Kopf nach unten in seinem Bett in einem Mansardenzimmer in Paris, das später nach dem Hochfahren der Wand in nächtlichem Leuchten sichtbar wird und das vormalige Zimmer im Nu zur Dachterrasse umfunktioniert. Mit der in sein Zimmer in einem gelben Kleid und schwarzen Handschuhen (Kostüme: Barbara Karinska) tretenden jungen Frau entspinnen sich von ihr anfangs schroff abgelehnte Liebes-Avancen, bis sie sich freundlicher gibt und den jungen Mann nach einer virtuos aufgeladenen Fangmich-Jagd zu einer aus einem herab hängenden Seil gebundenen Schlinge führt und das Zimmer verlässt. Er kämpft in wütenden Sprüngen über Tisch und Stuhl mit sich selbst, ehe er sich beruhigt und seinen Kopf tatsächlich in die Schlinge legt. Nach der schnellen Verwandlung deutet dieselbe Frau, nun in weißem Kleid, roter Kapuze und Totenmaske, ihm an, sich zu befreien, was er tut und nun mit der ihm vors Gesicht gehaltenen Maske ihren fast pathetischen Weisungen über die Dächer folgt. Ciro Ernesto Mansilla und Hyo-Jung Kang, die immerhin in die Fußstapfen bedeutender Vorgänger wie Zizi Jeanmaire und Natalia Makarova bzw. Rudolf Nurejew und Michail Baryschnikov treten, laden die teils artistisch, teils schlicht alltäglich geprägte Choreographie mit viel Leidenschaft und verführerischer Ausstrahlung auf, steigern den Wechsel aus Innehalten und Ausbruchs-Attacken zum spannenden Mini-Drama, wozu auch Bachs Passacaglia in c-moll in ihrer Corona bedingt gewählten ureigenen Gestalt als Orgel-Solo (Solist: Jörg Halubek) anstatt der für Petits Choreographie von Ottorino Respighi geschaffenen üppigen Orchesterinstrumentierung beiträgt. Die Stuttgarter Einstudierung besorgte Luigi Bonino und dürfte aufgrund ihrer Konzentration auf ein starkes Paar dauerhafter eine gute Gelegenheit sein, mehrere Solisten-Kombinationen zu präsentieren.
Hoffen wir also auf eine Rückkehr nach Live-Spielfreigabe, was natürlich auch für den zunächst als Finale dieses Programms geplanten „Bolero“ von Maurice Béjart gilt. Da dieser immerhin in einem kleinen Gala-Programm im Juli drei Mal gezeigt werden konnte, wird jetzt offensichtlich das Warten auf die nächste Gelegenheit mit Publikum bevorzugt.
Udo Klebes