Stuttgarter Ballett: „SCHWANENSEE“ 16.10. 2024– mit Auszeichnung zur Compagnie des Jahres
Bevor die Compagnie zu ihrer Tournee nach Tokyo aufbricht, präsentieren sich nochmals alle Besetzungen des Hauptpaares in John Crankos Version des Tschaikowsky-Klassikers. Für diejenigen, die sie noch nicht kennen, sei zwischendurch mal wieder erwähnt, dass auf die bekannteste Nummer der Musik, den berühmten Walzer, hier vergeblich gewartet wird. Stattdessen kommt er/sie aufgrund des dramaturgischen Verständnisses des Choreographen in den Genuss der im vierten Akt eingefügten Streicher-Elegie aus Tschaikowskys Phantasie-Ouvertüre „Hamlet“, deren ätherische Abschieds- und Trauer-Stimmung ideal zur Situation und zum darauf folgenden stürmischen Überlauf des Sees und Siegfrieds Tod in den Fluten passt. Im letzteren krönt Henrik Erikson seine weiterentwickelte und inzwischen tief verinnerlichte Zeichnung des Prinzen, die er als ein lockerer und gleichzeitig feinsinniger junger Mann, von der anfänglichen Munterkeit im Kreis der Freunde und im Divertissement mit den Bürgerinnen über seine bei jeder werbenden Prinzessin differenziert entschiedenen Ablehnung, die aufflammende Zuneigung zu Odette und der Täuschung durch ihre Doppelgängerin Odile bis zur unabwendbaren Trennung von der geliebten Frau in berührender Intensität vermittelt. Technisch besteht noch Luft nach oben, das Potenzial ist sichtbar noch nicht ausgeschöpft, und das darf mit seinen 25 Jahren auch so sein. Statt makellos durchgezogener Soli zeigt er ganz im Cranko’schen Sinn den Menschen hinter der Figur, der ihn, wie wir ganz aktuell aus dem in die Kinos gekommenen Film gelernt haben, viel mehr interessiert hat als Perfektion.
Verinnerlicht: Elisa Badenes (Odette), Henrik Erikson (Siegfried) mit Corps de ballet im 2.Akt. Foto: Stuttgarter Ballett
Verführerisch: Elisa Badenes (Odile) und Henrik Erikson (Siegfried) im 3.Akt. Foto: Stuttgarter Ballett
Natürlich ist es doppeltes Glück, wenn beides zusammentrifft wie bei Primaballerina Elisa Badenes, die in der Haupt-Doppelrolle alle Register ihrer formidablen Körperbeherrschung und ihre damit verschmelzende Einfühlung in die zwei Seiten einer Schwanenfrau, die zart Liebende und die leidenschaftlich Verführende, zieht. Der Schwarze Schwan lässt richtig Funken schlagen und im Zusammenspiel mit Siegfried und dem seine Macht suggestiv ausspielenden Clemens Fröhlich als Rotbart ein Spannungsfeld entstehen, wie es in solcher Dichte nur selten zu erleben ist.
Im Personal intensiven Umfeld führte Miriam Kacerova das Quintett der Bürgerinnen souverän an, gefolgt von Mackenzie Brown, die ebenso wie Mizuki Amemija (zusammen mit Daiana Ruiz als Große Schwäne) sichtbar macht, dass ihn ihr auch Interpretinnen der Hauptrolle stecken. Bei den Nationaltänzen beweist an erster Stelle Diana Ionescu als Russische Prinzessin erneut, was eine individuelle Persönlichkeit ausmacht.
Die Solorollen wechseln, das Corps de ballet ist dagegen bei jeder Aufführung gefragt und unterstrich mit einer geschlossenen Leistung, besonders bei den symmetrischen Reigen der Schwäne seine hohe Qualität. Das Staatsorchester Stuttgart steuerte unter der in den Tempi manchmal etwas schwankenden Leitung von MD Mikhail Agrest ein durchweg routiniertes, hie und da etwas unsauberes Klangbild bei.
Urkunden-Überreichung mit dem ganzen Ensemble. Foto: Stuttgarter Ballett
Der Publikumsjubel mit selten gewordenen Blumen-Ovationen bildete die richtige Stimmung für die anschließende Verleihung der Urkunde zur Ernennung zur (gemeinsam mit dem Staatsballett Berlin) besten Compagnie des Jahres durch die Zeitschrift „Tanz“ bzw. deren Verleger. Nicht nur für diese Vorstellung hat das Stuttgart Ballett diese Auszeichnung, in welchem Maß auch immer sie bewertet wird, verdient. Herzliche Gratulation!
Udo Klebes