Stuttgarter Ballett; „ROMEO UND JULIA“ 7.10. (WA) + 8.10.nm – Spielzeitauftakt nach Maß
Mit John Crankos weltweit gespielter und den Ruhm des Stuttgarter Balletts maßgeblich mitbestimmt habender Choreographie von Shakespeares berühmtem Liebesdrama in den stimmungsvoll leichten Bühnenräumen und charakteristischen Kostümen von Jürgen Rose hatte Tamas Detrich seine erste Spielzeit als Intendant der Compagnie begonnen. Seither sind bereits fünf Jahre vergangen. Zeit und Gelegenheit für einen kurzen Rückblick in Form eines öffentlichen Gespräches am Nachmittag vor der Wiederaufnahme-Premiere des Klassikers mit den zwei erfahrenen Interpreten der Titelrollen Friedemann Vogel und Anna Osadcenko sowie der vor ihrem Debut stehenden Ersten Solistin Rocio Aleman. Auf die Details der noch einmal Revue passierenden Höhepunkte dieser Jahre braucht hier nicht näher eingegangen werden. Erinnert werden sollte aber an die enorme Einschränkung der Pandemie bis fast zum Stillstand, wenn Detrich nicht schließlich an oberster Stelle erfolgreich dafür gekämpft hätte, dass Tänzer auch als Hochleistungssportler gelten und wenigstens in kleinen Gruppen wieder trainieren dürfen, wenn dies Fußballern auch gestattet war.
Doch nun zur ersten Vorstellung und der ersten Reprise in der neuen Saison, die bestimmt war von vielen Rollen-Debutanten und einem Corps de ballet mit vielen neuen Gesichtern. Crankos Erzählkunst, seine schwebende Balance zwischen Drama und Spiel sowie sein tiefes und untrügliches musikalisches Gespür braucht hier nicht mehr en detail gerühmt werden, bei jeder Wiederbegegnung wird verständlich, warum seine Choreographie rund um den Erdball als stimmigste Version gefeiert wird.
Rocio Aleman (Julia) und David Moore (Romeo) auf dem Ball im 1.Akt. Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Nachdem der langjährige Romeo Friedemann Vogel diese Partie inzwischen zurück gelegt hat, galt es neue Paar-Kombinationen zu finden, die so für zusätzliche Spannung gesorgt haben. An der Seite der wie immer wie hingetupft leicht wirkenden, sich in jede Situation mit Hingabe fallen lassenden, Perfektion und Spontaneität in Einklang bringenden Elisa Badenes lag das Publikum Marti Fernandez Paixa als rundum überzeugendem, in Erscheinung, Ausstrahlung und technischem Geschick kaum noch zu toppendem Bilderbuch-Liebhaber auf Anhieb zu Füßen. Wie selbstverständlich sitzende Hebungen und eine generelle körperliche Geschmeidigkeit ermöglichen es der Partnerin sich ihm vollkommen anzuvertrauen, und den Pas de deux einen mitreißenden Fluss zu geben. Noch intensiviert durch die wärmende Emotionalität, mit der Paixa auf seine Partnerin einwirkt, und die er auch intuitiv in jede Phase des Dramas, in jedes Detail zu legen vermag. Ein Romeo, der das Herz in allem was er tut, auf dem rechten Fleck hat.
Adhonay Soares Da Silva (Mercutio) und Jason Reilly (Tybalt) im 2. Akt. Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Jason Reillys Tybalt ist an bedrohlich arroganter Physis und entsprechend ausgelebter Kampf- bzw. Fechtbereitschaft nichts mehr hinzu zu fügen. Adhonay Soares Da Silvas brillant locker und technisch herausragend getanztem Mercutio ist eine bei aller Lebensfreude noch differenziertere charakteristische Ausprägung zu wünschen, von der vor allem seine noch etwas bemüht zwischen Leben und Tod pendelnde Sterbeszene profitieren würde.
Auf Anhieb gelungen ist Alessandro Giaquintos nicht nur spielfreudiger, auch menschlich treu zu Romeo stehender und im Pas de trois gut mithaltender Benvolio. Als Graf Paris bietet Clemens Fröhlich die ideale Gestalt eines elegant schreitend auftretenden, zwischen Überheblichkeit und Zurückhaltung schwankenden Grafen Paris, der auf dem Ball mit Julia gute Führungsqualitäten zeigt.
Elisa Badenes (Julia) und Marti Fernandez Paixa (Romeo) im 3.Akt. Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Am Nachmittag darauf schlug dann die Stunde von Rocio Aleman. Bei ihrem Einstand als Julia gelang es ihr vor allem mit einer Kombination aus mädchenhaftem Liebreiz, spürbarer Herzlichkeit und warmer Einfühlsamkeit für sich einzunehmen. Balance und Linie bleiben durchweg gewahrt, ihr Spiel artet auch im Moment des Ringens um eine Entscheidung für oder gegen den Schlaftrunk nie ins Pathetische aus. Nicht ganz verbergen ließ sich jedoch ein gewisser Mangel an Harmonie und Übereinstimmung mit dem Romeo von David Moore. Für sich betrachtet ist der bereits länger mit der Partie vertraute Engländer ein in erster Linie technisch genauer, besonders im Schlafzimmer-Pas de deux partnerschaftlich auffallend zuverlässiger, alles in allem choreographisch ergebener Interpret, dessen etwas ernstes Naturell und nur mal kurz aufflackernde Leidenschaft eher im rauhen Norden als in Verona anzusiedeln sind.
Matteo Miccini als strahlender Mercutio im 1.Akt. Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Für Begeisterung sorgte der flinke, bestechend präzise und umwerfend strahlend temperamentvolle Mercutio von Matteo Miccini, der sein Rollendebut mit einer spannungsgeladenen, am Grat zwischen Dies- und Jenseits jonglierenden Todesszene krönte. Accompagniert von Corps de ballet-Tänzer Eduardo Sartori, der als liebevoller und drehfreudiger und auch im Ensemble nicht untergehender Benvolio erstmals einen Solovorhang bekam. Auf seine weitere Entwicklung dürfen wir gespannt sein. Martino Semenzato muß in den Part des unbeherrschten Ehrenmannes Tybalt nicht erst hinein wachsen, Präsenz und körperliche Ausdruckskraft bis hin zu den letzten eruptiven Aufbäumungen sind bereits jetzt rollendeckend. Satchel Tanners im Auftreten und im Partnern auf dem Ball passend nobler Graf Paris muss noch etwas Scheu ablegen, um bei Julia mehr Chancen zu haben.
Die Zeit der mütterlich geprägten Ammen ist vorbei – mit Joana Romaneiro Kirn tritt ein jüngerer Typus, eine sorgenvolle Freundin auf den Plan. Vielfach erprobt sind dagegen Sonia Santiago und Rolando D’Alesio als Julias gräfliche Eltern. Veronika Verterich, Daiana Ruiz und Elisa Ghisalberti bilden ein im Typus nicht ganz einheitliches, im Vergleich zu früheren Besetzungen hie und da etwas Schmiss und Pfeffer vermissen lassendes Zigeunerinnen-Trio. Sie mischen die Marktplatz-Szenen ebenso auf wie die von Fabio Adorisio bzw. Noan Alves angeführte Faschingstanz-Gruppe. Matteo Crockard-Villa obliegt es in kurzen Momenten als Herzog von Verona Strenge und Pater Lorenzo Güte zu vermitteln. Zweiteres liegt ihm mehr.
Normalerweise wird der unergiebige Part von Romeos erster Geliebter Rosalinde nicht erwähnt, doch jetzt stand darin nach sehr langer Verletzungspause die Solistin Diana Ionescu wieder auf der Bühne und bewies in den wenigen Momenten ihrer Auftritte eine nicht alltägliche künstlerische Präsenz.
Nach wie vor ein Glanzpunkt sind die treffsicher von viel Lebenslust und Temperament bestimmten und mit viel Sinn fürs Wesentliche getanzten Corps de ballet-Szenen.
Bei der Wiederaufnahme gelang es Musikdirektor Mikhail Agrest mit dem Staatsorchester Stuttgart Prokofieffs perfekt auf jedes Detail abgestimmte Partitur auch über die choreographisch-tänzerischen Bedingungen hinaus in ihrem farbenreichen symphonischen Glanz hörbar zu machen. Unter der Leitung von Wolfgang Heinz am Nachmittag darauf blieb es dann bei einer rein ordnungsgemäßen Wiedergabe, die den Unterschied deutlich machte.
Als Tamas Detrich im Rahmen des Gesprächs auf die Ängste zu sprechen kam, die sie alle während der Lockdowns und des zögerlichen Wiederbeginns hatten, dass das Publikum womöglich nicht mehr so treu zurückkommen würde, ertönte aus den Zuschauerreihen ein demonstrativ lautes „Never“. Nicht nur angesichts dieser ausverkauften beiden Vorstellungen braucht er sich keine Sorgen um die Zukunft des Stuttgarter Balletts zu machen.
Udo Klebes