Stuttgarter Ballett „REMEMBER ME“ 13.7. 2023– im Zeichen der Liebe und Freundschaft
Bezwingend reife Gestaltung: Jason Reilly in „Requiem“. Foto: Stuttgarter Ballett/ Roman Novitzky
Wie schon in den letzten Jahren gehören die letzten zwei Wochen der Spielzeit dem Ballett mit einer Wiederaufnahme-Premiere und einer kleinen Repertoire-Schau. Anlässlich des Ende Juni mit einer Gala gewürdigten 50. Todestages von John Cranko konzentriert sich das Programm diesmal fast zur Gänze auf den viel zu früh verstorbenen Begründer der Compagnie. Zwei besonders mit ihm verbundene Choreographien gelangten jetzt zu einem Abend der Erinnerung kombiniert neu einstudiert auf die Bühne. Bei Crankos 1972 geschaffenen „INITIALEN R.B.M.E.“ erfolgte dies unter tatkräftiger Mitwirkung und Beratung von den drei der vier noch lebenden Widmungsträgern Marcia Haydée, Birgit Keil und Egon Madsen, die am Schluss auf die Bühne geholt und auch jetzt wieder oder besser gesagt immer noch begeistert gefeiert werden.
Die vier Initialen: Matteo Miccini, Elisa Badenes, Anna Osadcenko und Adhonay Soares Da Silva (von links im Uhrzeigersinn). Foto: Stuttgarter Ballett/ Roman Novitzky
Dieses Herzstück Crankos, als Dank an seine vier von ihm zu herausragenden Ersten Solisten aufgebauten Tänzern wie auch die ganze Compagnie kreiert, bildet auch lange nach dem Abtritt der ursprünglichen Initialen eine wichtige Signatur-Arbeit für die nachfolgenden Generationen, in der jeder neben stupender Technik seine Persönlichkeit einbringen kann. In allen vier Sätzen von Johannes Brahms 2.Klavierkonzert (B-Dur op.82), das der nachweislich Liebe und Freundschaft hoch eingeschätzt habende Komponist einst selbst am Klavier zur deutschen Erstaufführung in Stuttgart gebracht hatte, umgibt er die jeweiligen Solisten mit kleineren und größeren Gruppen, die wiederum teilweise auch solistisch oder als Pas de deux kaum weniger gefordert sind.
Im ersten Satz tritt Adhonay Soares Da Silva in die Spuren von Richard Cragun, brilliert in langen, dynamisch sauber modulierten Pirouetten-Ketten und kräftigen Sprüngen, vielleicht durch eine gewisse Anspannung noch nicht ganz frei und dadurch in der Ausstrahlung etwas reserviert. Diesbezüglich wird er von den beiden solistisch sekundierenden Daiana Ruiz und Mackenzie Brown mit locker gespannten Sprüngen etwas in den Schatten gestellt.
Im zweiten Teil vermochte Anna Osadcenko technisch expressiv souverän, aber etwas spröde in der Körpersprache, der eleganten und feinlinearen Schönheit Birgit Keils nicht so recht zu entsprechen. Da hat das sie exquisit umgebende Quintett aus ihren Erste Solisten-Kollegen Agnes Su, Rocio Aleman, Jason Reilly, Marti Fernandez Paixa und David Moore durchaus genauso viel, wenn nicht gar mehr zu bieten.
Der dritte Satz, musikalisch geprägt von einem elegisch warmen Cello-Solo, symbolisiert ohne konkrete Handlung eine einsame Frau, die einen Partner findet, der sie dann wieder verlässt. In den vielen einst von Marcia Haydée besonders kunstvoll zelebrierten Pas de bourrée couru auf eng geführter Spitze hat sich mit Elisa Badenes eine mit federleichter Linie versehene Nachfolgerin gefunden, als Partner ermöglicht ihr Friedemann Vogel, selbst mit einer traumverlorenen Einfühlsamkeit am Werk, in den vielen Höhenflügen erdige Schwere vergessen zu machen.
Überzeugend besetzt ist der letzte, als Allegretto dahinwirbelnde Satz mit Matteo Miccini, der die vielen kleinen und schnellen Schritte mit häufigen Richtungswechseln wohl so akkurat und flink hinlegt wie damals Egon Madsen, gepaart mit einer ansteckenden Lebensfreude. Umringt von einem auch hier ungemein anspruchsvoll virtuosen wie phantasievoll eingegliederten Corps de ballet, das an diesem Abend fast komplett in diesem Stück debutiert und konzentriert wie sicher vorbereitet wirkt.
Nicht vergessen werden darf, dass Jürgen Rose mit chinesischer Lyrik nachempfundenen, wie hingetuschten, zu den Charakteren der Initialen passend farbschattierten Prospekten und Kostümen mit zur verklärenden Schönheit dieses Werkes beigetragen hat, das Crankos Elemente variantenreicher Pas de deux-Kunst und musikalischer Formung in vollendeter Form vereint.
Einprägsame Symbolik: Elisa Badenes, Anna Osadcenko mit Adrian Oldenburger, Satchel Tanner, Christopher Kunzelmann und Clemens Fröhlich im „Requiem“. Foto: Stuttgarter Ballett/Roman Novitzky
Sir Kenneth MacMillan hat 1976 als Erinnerung an seinen Freund und Kollegen John Cranko Gabriel Faurés „REQUIEM“ eine tänzerische Gestalt gegeben. Nicht zum ersten Mal wurde ihm in England verwehrt eine bestimmte Musik zu choreographieren, weshalb auch diese Kreation wie schon gut 10 Jahre zuvor „Das Lied von der Erde“ für das Stuttgarter Ballett geschaffen und dort uraufgeführt wurde. Faurés transparent lichte Harmonik und der Gregorianik folgende Melodik, die ohne die meist dramatischeren Schilderungen von Totenmessen auskommt, ist wie geschaffen für die Tröstung einer tief getroffenen Compagnie, deren Trauer schließlich doch überwunden wurde. Und so schwebt über weiten Teilen der Aufführung bei allem Trübsal ein der Musik immanentes mildes Licht, das am Ende in einer Säule nach oben führt (Bühne: Yolanda Sonnabend), während die Gestalt der engelgleichen Frau von zwei Männern in die Lüfte erhoben wird. Eines von vielen einprägsamen Bildern, die sich sofort im Gedächtnis einbrennen. Wie z.B. das zur Masse geknäuelte Ensemble, das sich gleich am Anfang gegen das Schicksal mit verzweifelt nach oben gestreckten und geballten Händen und stummen Schreien stemmt oder das mit einer symbolisch bezwingenden Geste ausklingende Agnus Dei, wo sich eine knieende Frau (die hier sehr starke und intensive Anna Osadcenko) der von Männern nach unten gehaltenen Engelgestalt entgegenstreckt. Und überhaupt viele Momente und Einstellungen, in der die Trauer im Miteinander von schönem Bewegungsfluss und gebrochenen Phasen je nach tänzerischem Einfühlungsvermögen mehr oder weniger greifbar wird. Elisa Badenes leuchtet als Engelsfigur mit Unschuldsmiene und schwebend leichter Aura über alle hinaus. Jason Reilly sticht als Opfer im Lendenschurz aus dem in helle unauffällige Trikots gekleideten Ensemble mit reifer körperlicher Verinnerlichung hervor. Friedemann Vogel krönt das Libera me mit ähnlich gearterter Präsenz, Marti Fernandez Paixa besticht im Sanctus als geschmeidig feiner Partner. Aus dem auch hier überaus geforderten Corps de ballet sind Clemens Fröhlich, Adrian Oldenburger, Christopher Kunzelmann und Satchel Tanner für ihre wiederholten Kraftakte an Hebungen hervorzuheben, die mit zur außergewöhnlichen Sphäre dieses Gedenkstücks beitragen. Nach dieser in sich geschlossen großartigen und tief bewegenden Wiedergabe dürfen wir der mehrmals in der Geschichte auftauchenden Behauptung des Requiems als MacMillans bester Schöpfung wohl Glauben schenken.
Nicht unterschlagen werden dürfen die musikalischen Beiträge: Alexander Reitenbach lässt Brahms konzertant konzipiertem Klavierpart im Rahmen der Tempoanpassungen an den Tanz eine gute Mischung aus Freude und Poesie angedeihen. Kabelo Lebyana mit differenziert geführtem warmem Bariton, Kiki Sirlantzi mit klarem Sopran und der Kammerchor figure humaine (Einstudierung: Denis Rouger) lassen Faurées vokale Feinfühligkeit leuchten. Das Staatsorchester Stuttgart schließlich vermag unter der Leitung von Mikhail Agrest mehr Gestaltung einzubringen, wie es als Ballett-Begleitpartner durchschnittlich möglich ist.
Udo Klebes