Stuttgarter Ballett: „PURE BLISS“ 25.2.2022 (Premiere) – Choreographien von Johan Inger
Die erste richtige Ballett-Premiere der Saison ist einem Künstler gewidmet, der im bisherigen Repertoire der Compagnie so gut wie keine Rolle gespielt hatte. Sicher ist der heute in Sevilla lebende Schwede Johan Inger dem hiesigen Fach-Publikum durch diverse Gastspiele seiner Choreographien mit dem Nederlands Dans Theater im benachbarten Ludwigsburg als renommiertester Choreograph seines Landes ein Begriff. So mutig die Ankündigung dieses Programms zunächst erscheint, so schnell wird klar, dass Ballettintendant Tamas Detrich bei der Zusammenstellung eine geschickte Koordination bewiesen hat.
Vittoria Girelli und Alessandro Giaquinto in „Bliss“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Das im wahrsten Sinn des Wortes mit Problemen beladene, in die Mitte platzierte Stück „Out of Breath“ war vor drei Jahren das erste hier gezeigte Werk des Choreographen. Mit der Kreation eines speziellen „Dornröschens“ im Schnelldurchlauf war von vornherein für Spannung gesorgt. Und das den Abend eröffnende „BLISS“ (= Glückseligkeit), 2016 beim Aterballetto aus der Taufe gehoben, verspricht allein durch seine musikalische Komponente eine Gewährleistung auf Erfolg. Denn Keith Jarretts 1975 die Geburtsstunde des improvisierten Solo-Konzerts markierendes und dadurch berühmt gewordenes „Köln Concert“ ist ein Meilenstein der Musikgeschichte. Der Einsatz des Klaviers ist in seiner Kombination aus Melodik und Rhythmus stimmungsdicht und höchst animierend. Auf offener nackter Bühne erscheinen nach und nach 16 TänzerInnen solo, zu zweit, zu dritt, in wechselnden kleinen Gruppen und erst zum Schluss in voller Größe, bis wieder nur einer übrig bleibt und nach kurzem Überlegen den anderen folgt. Die leicht wirkenden Hosen, verschiedenfarbigen Hemden und geschlitzten Kleider (Kostüme: Inger unter Mitarbeit von Francesca Messori) unterstützen die Leichtigkeit und Sorglosigkeit, mit der sich ihre Träger in den Sog der Musik hinein treiben lassen, ihre Impulse wie notwendige Nahrung aufnehmen und in verschiedenste Bewegungsformen vom lässigen Wippen bis zu langsam aufgebauten Hebungsaktionen einfließen lassen. Kaum zu glauben, dass hinter dem sich wie spontan ergebenden Ablauf eine doch genaue choreographische Vorlage steckt. Den Freiraum, der sich allen dennoch bietet, wird reichlich genutzt. Geradezu erfrischend ist der auch solistische Einsatz von Angelina Zuccarini, Mackenzie Brown, Miriam Kacerova, Vittoria Girelli, Matteo Miccini, Alessandro Giaquinto, Fabio Adorisio, gefolgt von weiteren acht sich später dazu mischenden KollegInnen.
Elisa Badenes, Daiana Ruiz und Shaked Heller in „Out of Breath“: Copyright: Stuttgarter Ballett
Nach so viel Ausgelassenheit bannt „OUT OF BREATH“ (Uraufführung 2002), zurück auf den Boden, in die Wirklichkeit zwischen Leben und Tod. Wie zufällig passend zur aktuellen Ukraine-Krise stimmen elegisch dunkel schwere Streicher-Klänge auf Ingers Verarbeitung der an einem seidenen Faden gehangenen Geburt einer seiner Töchter ein. Drei Frauen und drei Männer sind mit einer zentralen, geschwungenen, nach hinten flacher werdenden Mauer konfrontiert, die die Grenze zum Jenseits markiert. In verschiedenen „Anläufen“ versuchen sie das Hindernis zu erklimmen, zu überspringen, oder irgendwie zu bewältigen, teilweise unterstützt von den Partnern. Mal zurück geworfen auf den Boden, mal an der Mauer hangelnd, hat Inger alles zu einer sehr an sein Vorbild Jiri Kylian erinnernden Tanzsprache, erdverbunden und doch hinaus strebend, verwoben – teils schwer lastend, aber zumindest im zweiten Teil befördert durch ein intensiv nervig manövrierendes Violin-Solo (furios faszinierend: Sebastian Klein) unterlegt mit pochenden Rhythmen eines kleinen Streicherensemble. Agnes Su, Elisa Badenes, Daiana Ruiz, Jason Reilly, Shaked Heller und Louis Stiens in eigenartigen Tutu-Kleidern mit freier Schulter und schwarz-weißen Säumen bzw. schwarzen Röcken und Jacken (Bühne und Kostüme: Mylia Ek) investieren mehr oder weniger so viel tiefgründige Gestaltung und körpersprachliche Präsenz, dass Ingers Botschaft trotz aller offen bleibenden Fragen mehr greift als bei der Stuttgarter Erstaufführung 2019.
Elisa Badenes (Aurora) und Friedemann Vogel (Desiré) in „Aurora’s Nap. Copyright: Stuttgarter Ballett
Die Ankündigung von Ingers „Dornröschen“ mit dem Titel „AURORA’S NAP“ (=Auroras Nickerchen) lässt bereits erahnen, dass es ihm um keine weitere klassische Variante geht. In direkter Konkurrenz mit der in Stuttgart erst jüngst wieder gespielten Fassung von Marcia Haydée ist es auch verständlich, dass der als Tänzer in Stockholm mit vielen Handlungsballetten vertraut gewesene Choreograph etwas komplett anderes entgegen setzen muss und möchte. Und so begegnet uns die vertraute Märchengeschichte in einer auf eine knappe Stunde, aber auch in drei Akte gegliederten zusammengerafften Version mit indes allen wichtigen Rollen und erzählerischen Stationen. Kaum zu glauben, dass Inger dabei erstmals mit Spitzenschuhen arbeitet, so geschickt verbindet er die herkömmliche klassische Attitude mit Stilmitteln der Komödie und einer Form von Parodie, die nur gelegentlich etwas zu sehr ins Alberne gleitet, ansonsten virtuos auf dem schmalen Grat des wirklich Komischen balanciert. Sind die beiden ersten Teile bis zum Versinken in den Schlaf vor einem wie aufgeblasen erscheinenden, schlicht skizzierten Schloss mit Türmen in einer historischen Vergangenheit mit kunstvollen Gewand-Kreationen und Puderperücken angesiedelt (Bühne und Kostüme: Salvador Mateu Andujar), erwacht Aurora in der Gegenwart in den Armen eines auf dem Kickroller die Bühne erobernden, zunächst etwas melancholischen Prinzen in schwarzem Anzug. Statt eines feierlichen Lüsters versammeln sich die Gäste in Sonnenbrillen jetzt zu einer Party mit den dezenten Lichtspielen einer Disco-Wunderkugel. Warum der ausgewählte erste Teil des großen Hochzeit-Pas de deux zu beider Vereinigung, nur im Slip befreit von einem Kostüm-Ballast, wie von ferne aus einem Grammophon erklingt, während das Staatsorchester Stuttgart unter dem aufgrund der Entlassung des Musikdirektors im Dauereinsatz befindlichen Wolfgang Heinz zuvor eine große Suite der wichtigsten Nummern der Tschaikowsky-Partitur gespielt hatte, bleibt ebenso fragwürdig wie der choreographisch etwas mager und inspirationslos ausfallende, doch einen glücklichen Höhepunkt markierende Abschluss. Ließ er es sich schon nicht nehmen, das Traumpaar der klassischen Version, Elisa Badenes und Friedemann Vogel, auszuwählen, wäre hier eine etwas mehr fordernde Handschrift zu erwarten. Doch bis dahin schüttelt Inger seine Ideen und Überraschungen gleich bündelweise aus dem Ärmel. Beginnend mit dem sich zunächst als Dirigent vor dem Vorhang aufspielenden Festordner Catalabutte, köstlich gemimt und in Bewegung übersetzt von Louis Stiens, gefolgt von einem mit der Neugeborenen in Babysprache kommunizierenden Königspaar (Roman Novitzky, Miriam Kacerova) und den auf vier reduzierten Feen mit papagei-bunten Tutus und spitz auslaufenden Kopfbedeckungen in witzig artikulierten kurzen Soli. Auch deren vorderste, die Fliederfee erfüllt Agnes Su mit komödiantisch durchsetztem Lenken zum Guten. Ihre Gegenspielerin Carabosse im spinnenmürben schwarzen Tutu und enorm hochtoupierter Frisur ist mit der für ihre Power prädestinierten Angelina Zuccarini überzeugendst besetzt.
Angelina Zuccarini (Carabosse) und Agnes Su (Fliederfee) in Aurora’s Nap. Copyright: Stuttgarter Ballett
Eine gelungene Lachnummer sind die vier nach Lüftung von Auroras zuvor getragenem Schleier ob ihrer Schönheit in Ohnmacht fallenden Prinzen Alexander Mc Gowan, Adhonay Soares Da Silva, Fabio Adorisio und Christopher Kunzelmann als Hommage an Gestalten aus bekannten ( Cranko- )Balletten. Elisa Badenes muss im phantasievoll mit den Prinzen arrangierten Rosen-Adagio immerhin einiges ihrer Spitzen-Balance-Kunst investieren, während es Friedemann Vogel genoss sich auch mal ohne größere Ansprüche von einer komischen Seite zu zeigen.
Als Reminiszenz an die gestrichene Märchenhochzeit schwirrte Vittoria Girelli je Akt als Gestiefelter Kater, Rotkäppchen und Blauer Vogel über die Bühne.
Eine kleine Corps de ballet-Gruppe schließlich stellte die Fest- bzw. Party-Gesellschaft.
Das Titel-Motto „Reine Glückseligkeit“ trifft aufgrund des zweiten Stückes wohl nicht ganz zu, aber das Publikumsecho im erst kurz vor dieser Premiere wieder auf 60 % Platzkapazität erhöhten Opernhaus signalisierte nach allen drei Präsentationen freudvolle Begeisterung mit vielen Vorhängen.
Udo Klebes