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STUTTGART/ Ballett: Proben zu „The Dying Swans Project“ – Februar 2021 – Ballettgeschichte Live 1.

28.02.2021 | Ballett/Tanz

Proben zu „The Dying Swans Project“ – Februar 2021 – Ballettgeschichte Live 1.

 

Derzeit wird mitten in der Pandemie in Stuttgart ein kleines Stück Ballettgeschichte geschrieben und zwar bei Gauthier Dance, der von Eric Gauthier 2007 gegründeten Compagnie mit Sitz im Theaterhaus Stuttgart.

Ausschlaggebend war eine Besprechung im Januar, bei denen Gauthier seinen Tänzern mitteilen musste, dass das für Februar und März geplante Tourprogramm aufgrund des verlängerten Lockdowns abgesagt werden musste und somit demnächst immer noch nicht vor Publikum getanzt werden kann. Die Tänzer, für die die Bühne und vor Publikum zu tanzen so ähnlich wie die Luft zum Atmen sind (diese Luft, die sie seit nun fast durchgehend einem Jahr nicht mehr atmen konnten), wirkten daraufhin so niedergeschlagen, dass sie Gauthier an den sprichwörtlichen „sterbenden Schwan“ erinnerten. Er wollte unbedingt nicht nur seinen Tänzern sondern möglichst vielen Künstlern eine Perspektive im Lockdown geben und die Gelegenheit, wieder zu fliegen, mit neuen künstlerische Herausforderungen. Die Idee zu „The Dying Swans Project“ wurde geboren und innerhalb kürzester Zeit fügte sich dann alles zusammen: Gauthier wurde im Rahmen der „be a mover“ Initiative der Daimler AG zu einem Gespräch mit Jörg Howe, Leiter Globale Kommunikation der Daimler AG eingeladen und erzählte dabei von seiner Idee, dieser sagte dabei spontan seine Unterstützung zu. Danach konnte Gauthier Les Théâtres de la Ville de Luxembourg, Ludwigsburger Schlossfestspiele, Holland Dance Festival, Festival Bolzano Danza, Tanz Bozen, Bürgerzentrum Waiblingen und die Künstler*innensoforthilfe Stuttgart für die Koproduktion gewinnen.   

Künstlerinnen und Künstlern aus den Sparten Tanz, Choreographie, Musik und Film sagten anschließend ohne zu zögern zu und innerhalb einer einzigen Woche war die Produktion in trockenen Tüchern: 9 Choreographinnen und 7 Choreographen kreieren je ein Solo für die 16 Mitglieder der Theaterhaus-Company, zu 16 neuen Musikstücken, hinzu kommt die filmische Realisierung und viele weitere Mitwirkende, insgesamt 64. Damit entstehen unter dem Motto „The Dying Swans“ nun 16 neue Kreationen, so unterschiedlich wie ihre Choreographen, dennoch haben alle die gleiche gemeinsame Botschaft: Kunst lässt sich nicht aufhalten. Das Projekt ist in zwei Phasen konzipiert: zunächst als Videoclips, abrufbar auf dem Theaterhaus Stuttgart-YouTube-Kanal und dem Instagram-Kanal von Gauthier Dance, danach sollen ausgewählte Soli, sobald wieder möglich, auch live bei den Partner-Festivals und im Theaterhaus Stuttgart aufgeführt werden. Abwechselnd sollen dabei auf der Leinwand die Videoclips der restlichen Solos gezeigt werden, aufgenommen an unterschiedlichen Schauplätzen in Stuttgart, wie der Königsbau am zentralen Schlossplatz, die Staatsbibliothek oder auch am Hafen. Weitere Distributionsmöglichkeiten werden noch geklärt, ein Coup ist Gauthier jedoch bereits gelungen: er konnte den Sender 3sat zur Ausstrahlung ausgesuchter Videoclips überzeugen, in der Mediathek des Senders werden dann alle Videoclips zu sehen sein.

Angelehnt an das berühmten Solo „Der Sterbende Schwan“ (engl.: „The Dying Swan“) aus Camille Saint Saens „Karneval der Tiere“, sollen alle neuen Kreationen dessen Dauer von ca. 3 Minuten nicht überschreiten. Das Original soll am Anfang der Live-Aufführungen in der Interpretation berühmter Solistinnen der Ballettgeschichte auf der Leinwand gezeigt werden, denn das Publikum soll auch das berühmte Stück, das als Inspiration diente, zu sehen bekommen.  Für die neuen Stücke hat Gauthier die Choreographen bewusst ausgesucht: möglichst gleich viele Frauen wie Männer, Künstler, die bereits zum Teil schon mit Gauthier Dance zusammengearbeitet haben, berühmte internationale Namen sowie Vertreter der freien Szene, nicht zufällig auch aus der Region Stuttgart. Die Vielfalt der Kunst soll zum Ausdruck kommen und dabei auch junge Künstler gefördert werden.

Die Proben haben bereits am 8. Februar begonnen, einige der Stücke sind bereits unter Dach und Fach, an manchen feilt man noch am Schnitt, wieder andere haben noch gar nicht angefangen. Die Organisation läuft auf Hochtouren, kaum vorstellbar, wie man das alles in kürzester Zeit an lediglich 2 Standorten unterbringen kann.

Je nach Wohnort der Choreographen entstehen die Kreationen vor Ort, an den Probestätten von Gauthier Dance, oder per Videoschaltung.

„Online“ kreiert somit einer der nun weltweit anerkannten Choreographen und er ist dem lokalen Publikum bereits seit 2009 durch zahlreiche Kreationen für das Stuttgarter Ballett bekannt, die wesentlich zu seinen weiteren internationalen Aufstieg beigetragen haben: der Rumäne Edward Clug, seit 2003 Leiter des Slowenischen Nationalballetts in Maribor. Inzwischen schuf er Werke für das Nederlands Dans Theater (NDT 1 und 2), das Ballett Zürich, Das Wiener Staatsballett, das Bolshoi Ballett in Moskau u. v. a. und er erhielt zahlreiche internationale Preise sowie eine Nominierung für den prestigereichen Prix Benois de la Danse, den Oscar der Tanzkunst.

Sein erstes Stück für Gauthier Dance entsteht für den italienischen Solisten Alessio Marchini. Per Videoschaltung ist man mittendrin im Probegeschehen: Lediglich mit einer weißen Unterhose bekleidet steht der Italiener in einem flachen quadratischen, kleinen, schwarzen Becken. Er hält einen schwarzen Eimer ohne Henkel in den Armen und verbeugt sich damit leicht in mehreren Richtungen: der Auftakt zu einem Stück voller Intimität und Emotion, dass es anfangs gar nicht zu sein verspricht.

Bei der letzten Verbeugung geht der Tänzer tiefer und aus dem Eimer fließt nun das Wasser ins Becken, das später von Anfang an mit Wasser bedeckt sein soll. Danach steigt Marchini in den Eimer und bückt sich in die Hocke. Man fragt sich, wie er so über dem Eimer „sitzen“ kann. Doch er steht felsenfest. Es ertönt Klaviermusik von Milko Lazar, die sofort die Stimmung für das Stück erzeugt. Der Solist streckt die Arme und beginnt damit wie ein Schwan mit den Flügeln zu flattern, mit kleinen Bewegungen aus den Schultern, den Ellbogen und den Handgelenken, seitlich und nach hinten, immer wieder.

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Gefangen und doch mit Flügeln: Alessio Marchini in „The Dying Swans Project“ von Gauthier Dance. Foto: Jeanette Bak

Langsam erhebt er sich, die Armbewegungen werden größer, die Flügel ganz ausgestreckt dann wieder gebeugt, um den Körper sowie auch um den Kopf.  Der Eimer hält ihn am Boden fest, er versucht ihm zu entkommen, macht Katzensprünge nach vorne auf den Armen, muss jedoch zurück, als wäre der Eimer mit Zement gefüllt. Wie von einer Welle getroffen erhebt er sich auf einmal mit einem lauten Seufzen, um dann noch tiefer, auch mit den Armen im Eimer, zu versinken. Gefangener geht gar nicht mehr. Er erhebt sich wieder, um neue Zuflucht zu suchen. Er entdeckt, dass er die Arme seitlich in seine Unterhosen stecken kann.

Stopp. Vom Bildschirm aus gibt Clug seine Anweisungen. Die Arme müssen ganz gestreckt sein, um die Unterhose seitlich noch mehr strecken zu können, nach dem Motto: hier ist noch ein Raum! Der Arm verschwindet darin, danach auf der anderen Seite gleich auch der andere. Marchini wiederholt die Bewegungen einige Male, Clug zeigt aus seinem Studio in Maribor wie er sich die Stelle vorstellt. Ein Ballettmeister markiert mit und scheint alle Bewegungen zu verinnerlichen, um später alleine mit dem Solisten zu proben. Die nächsten Tage wird Clug nicht mehr dazu geschaltet sein, er kann jedoch zu den Dreharbeiten kommen, fast ein Wunder in dieser Zeit.

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Per Videoschaltung kreiert und erst nach Fertigstellung des Stückes, bei den Dreharbeiten, vereint: Choreograph Edward Clug und Tänzer Alessio . Foto: Jeanette Bak

Die Bewegungen stimmen nun, Marchini macht weiter, versinkt nochmals im Eimer, erhebt sich gleich wieder, versucht dann die Arme durch die Unterhosen nach oben zu heben, schafft jedoch natürlich nur, die Unterarme aus den Ellbogen nach oben zu beugen. „Sehr gut“ sagt Clug, „I’m safe, but I can’t fly any more“. (“Ich bin sicher, doch ich kann nicht mehr fliegen.“) Plötzlich wird klar, dass dieser eine Satz vielleicht die Essenz des Solos ausdrückt. Der Italiener tanzt weiter, er nimmt die Arme aus den „Schlingen“ wieder heraus und hebt sie langsam seitlich wieder zu Flügeln. Sie flattern wieder leicht – so endet das Stück, immer noch in Bewegung. Auf unerklärliche Weise ist dieses Ende plötzlich doch positiv.

Alles wird mehrmals von vorne wiederholt und man begreift, dass Clug es irgendwie geschafft hat, in diesen 3 Minuten die ganze Tragik der Pandemie aber auch die Träume, die darin entstehen, zu komprimieren, um das Publikum am Ende doch mit Hoffnung zurückzulassen. Was ist danach, wenn man seine Flügel wieder ausstrecken und aus dem verwurzelten Eimer entkommen kann? Wie weit kann man dann fliegen?

Einige Tage später ist Clug vor Ort für die Dreharbeiten. Auf dem großen Bildschirm, von dem aus er davor bei den Proben seine Kreation geformt hat, werden nun die Aufnahmen angesehen.

Sehr wenige Personen sind in der Halle im Theaterhaus, allesamt getestet und unter Einhaltung der strengen Hygieneregeln, Sauerstoffmesser für den Raum inklusive. Doch das ist man bereits gewohnt, jeder arbeitet konzentriert, das Stück und der Tanz stehen im Vordergrund. Das Becken wird mit Wasser gefüllt, das Licht und die Kameraeinstellung eingestimmt. Marchini führt das Stück mehrmals auf, das mit Wasser gefüllte Becken ergibt nun die volle Stimmung, ist für den Italiener jedoch auch herausfordernder, plötzlich hat er in dem Eimer nicht mehr die Stabilität wie früher.

Man sieht sich die Aufnahmen auf dem Großbildschirm an. Sollen noch einige Aufnahmen von oben gemacht werden?

Dieses Stück ist eines von denen, das live nicht gezeigt werden kann und man fragt sich, wie wird es beim Publikum auf dem Bildschirm und später auf der Leinwand wirken? Wieviel von der Stimmung und Energie kann vermittelt werden, was kann durch Nahaufnahmen vielleicht mehr dazu beitragen als live?

Bald ist alles unter Dach und Fach. Die Zeit vergeht dabei schneller als gedacht. Man ist dankbar, das live erlebt haben zu können und es fühlt sich an, als wäre man Zeuge von Ballettgeschichte. Diese wird in Stuttgart bei Gauthier Dance gerade mit Sicherheit geschrieben. Zum einen, weil Eric Gauthier bisher bewusst keine Vorstellungen ohne Publikum aufnehmen und online stellen wollte. Das haben schließlich alle gemacht. „The Dying Swans Project“ ist somit seine erste Aufführung der Art und hat sich als Mischung zwischen live Stücken und Videoclips, die man so live nie zeigen könnte, für Gauthier als das Beste an der Pandemie entwickelt. Zum anderen weil vermutlich vorher kaum in der Geschichte ganze Ballettstücke per Videoschaltung choreographiert wurden und dies erfolgt hier nun mehrfach.

Nichts kann live Vorstellungen und was sie vermitteln können ersetzen, auch nicht die besten Videoaufnahmen, die nun gemacht wurden, dennoch freut man sich, das Projekt so entstehen sehen zu können und noch mehr darauf, dass es in zwei Stufen geplant ist: man weiß, dass es nach der Premiere, die für April online geplant ist, auch noch die Steigerung live geben wird, die das Beste aus live und Video vereinen wird.

Stay tuned für mehr Berichte demnächst sowie der Ausstrahlung auf dem Theaterhaus Stuttgart-YouTube-Kanal und dem Instagram-Kanal von Gauthier Dance.           

Dana Marta 

 

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