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STUTTGART/ Ballett/ Premiere im Schauspielhaus: „NEW CREATIONS  XIII-XV“ – Zwischen Intellekt und Show

26.11.2023 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett: „NEW CREATIONS  XIII-XV“ 25.11. (Premiere im Schauspielhaus) – Zwischen Intellekt und Show

Jede Fortsetzung dieser Uraufführungs-Reihe ist mit der Frage verbunden, ob daraus wieder einmal ein neuer Hauschoreograph hervor geht, dessen Position seit dem Intendantenwechsel im Jahr 2018 vakant ist. Waren bislang hauptsächlich Tänzer aus den eigenen Reihen in dieser Serie hervor getreten, so wurde diesmal eine Halbsolistin der Compagnie mit zwei Gastchoreographinnen zu einem rein femininen Trio kombiniert. Der Ertrag fiel gegenüber der letzten Ausgabe deutlich schwächer aus. Zudem stand das am sinnfälligsten umgesetzte und in der Verquickung von Musik und Tanz geschlossenste Werk, rückblickend als Höhepunkt betrachtet, nicht nachvollziehbar am Beginn des Abends.

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SOSPESI:  das Ensemble aus Zwitterwesen. Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Vittoria Girelli ist nicht nur die jüngste der drei Schrittmacherinnen, ihr gelingt auch die leichteste Veranschaulichung ihrer gedanklichen Vorstellungen in Verbindung mit einem die musikalische Auswahl treffend umsetzenden Stil. „SOSPESI“ (=schwebend) bedeutet hier ein Grenzbereich zwischen Himmel und Erde mit Zwitterwesen inspiriert von Aristophanes „Wolkenkuckucksheim“ und Hieronymus Bosch visionär grotesken Gemälden. Girelli geht es um die Dualität des Schönen und Dunklen der menschlichen Existenz. Das Architektonische, Francesca Sgariboldis Bühnenraum mit sich zentralen und seitlich über eine Rampe nach oben schwingenden Wänden, die den Blick nach oben lenken, symbolisiert eine Weiterentwicklung des Raumes in eine utopische Welt der Vollkommenheit. Die Choreographie zeigt die von Girelli selbst eingekleideten Akteure (die Männer in langen schwarzen Hosen und freien Oberkörpern, die Frauen in kurzen Hosen und ärmellosen schwarz.silbernen Tops) in einem fortlaufenden Wandel zwischen Mensch und Tier, im speziellen Vögeln, Insekten und Würmern. Wie Flügel abgewinkelte Arme in gebeugter Stellung, zum Boden hin driftende Windungen, dann wieder nach oben strebende Formationen mit einigen Hebungen oder mit Abstützung der Partner rechtwinklig zur Wand eingenommene Positionen werden z.T. auch im Zeitlupentempo fließend miteinander verbunden. Klare Linien statt Ecken und Kanten lautet die choreographische Devise, wodurch sich der Tanz nach einer idyllhaften Geräuschkulisse auch ganz der von Davidson Jaconello arrangierten Musik anschmiegt bzw .ihren Impulsen folgt: schnelleren und langsameren Serenade-Sätzen von Elgar, Schubert und Chopin. Die Lichtgestaltung von Lukas Marian mit wechselnden Farbstimmungen ergänzt Girellis Vision einer Zwischenwelt. Von den allesamt gut zur Geltung kommenden sieben TänzerInnen bekommen neben Elisa Ghisalberti, Anouk van der Weijde und Edoardo Sartori die in kurzen Pas de deux eingesetzten (Mackenzie Brown und Matteo Miccini, Giulia Frosi und Martino Semenzato) Gelegenheit ihre Qualitäten zu zeigen.

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WHERE DOES THE TIME GO:  ein Lichtblick im Ganzen: Rocio Aleman und Fabio Adorisi. Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

„WHERE DOES THE TIME GO“ – diese Frage stellt sich auch die beim Norwegischen Nationalballett Oslo als Erste Solistin tanzende und seit 2020 auch als Choreographin arbeitende Australierin Samantha Lynch. Wie sich der Blick auf das Leben mit zunehmendem Alter perspektivisch verändert und bestimmte Musikstücke Erinnerungen mit Begebenheiten in uns wachrufen. Wie auch kleine Dinge immer wichtiger werden, und der Mensch als soziales Wesen in seinem Werden von Anderen beeinflusst wird. Lynch spricht im Programmheft von kleinen versteckten Geschichten, die sie zeigen möchte, abstrakt in der Stimmung, angetrieben von unterschiedlicher Musik des Lebens zwischen Fröhlichkeit und Melancholie. Vielleicht sind diese Erinnerungen zu persönlich, als dass sie sich in Tanz anschaulich verwirklichen lassen oder doch zu beliebig um verständlich ausgedrückt zu werden. Im Grunde genommen besteht ihr Stück mit einer zentralen (Ess-)Tafel, deren in höhenverschiedene Segmente unterteilter Tisch zunehmend kleiner wird und die verrinnende Zeit symbolisieren soll, hauptsächlich aus zwei aus dem sonst dunklen Raum an die Rampe geholten Pas de deux, einem musikalisch glückvoll angetriebenen und einem nachdenklich sentimentalen. Getanzt von Ruth Schultz und Alessandro Giaquinto bzw. Rocio Aleman und Fabio Adorisio mit leidenschaftlichem Engagement und viel körperlichem Profil. Doch der Stil der Choreographin bleibt wie die mehr im Hintergrund teils heftig gestikulierend und übereinander her fallend an der Tafel gehaltenen weiteren Beteiligten (Mizuki Amemiya, Christopher Kunzelmann, Daniele Silingardi und Adhonay Soares Da Silva) im Diffusen eines Arme und Hände ständig unter- und übereinander schlingenden freien Bewegungskanons hängen. Emotionen flammen nur kurz auf, obwohl das von Luke Howard eigens ergänzte musikalische Material aus u.a. Ray Charles „Hallelujah“ und Chuck Rios „Tequila“ mehr als nur die Stimmung rahmt. Die in Einheits-Bordeauxrot gehaltenen Kostüme von Bregje van Balen unterstützen die Blässe des später nur durch einen großen Lampenschirm brennpunkt-artig beleuchteten Bühnengeschehens.

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AVERNO: im Mittelpunkt: Mackenzie Brown (Persephone) und Matteo Miccini (Hades). Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Die Hoffnung auf eine Steigerung mit dem letzten neuen Beitrag wurde leider enttäuscht. Die Britin Morgann Runacre-Temple offeriert in „AVERNO“ im Miteinander und Nebeneinander von Mythos und gegenwärtiger Realität, von Tanz und Video mit Live-Kamera eine Show, die in ihrer surrealistischen Theatralik manche als neu und gar Aufsehen erregend betrachten mögen. Doch von einer laut Biographie bereits sehr erfahrenen und auch mit einigen Handlungsballetten wohl erfolgreich gewesenen Tanzschöpferin darf denn im Wissen um die Arbeit für eine Compagnie mit der Qualität des Stuttgarter Balletts mehr erwartet werden als eine Kreation, die die Tänzer technisch und darstellerisch nur wenig fordert und ihre Einsätze durch die Live-Videos phasenweise in den Hintergrund treten oder verdecken lässt. Bereits der Ausgangspunkt ihres Stücks, dessen Titel einen Kratersee in der Nähe Neapels bezeichnet, der im alten Rom als Tor zur Unterwelt galt, ist trotz gedanklicher Verbindungen sehr surrealistisch. Einerseits das Schicksal Persephones, die von Todesgott Hades entführt wurde und ihrer sich an der Erde dafür rächenden Mutter, andererseits ein Auto und eine Benzinzapfsäule auf der Bühne als Symbole von Reisen in eine andere Welt, Erdöl als aus der Unterwelt kommender Rohstoff, eine Telefonzelle als Ort des gemeinschaftlichen Wartens. Die nichts sonderlich Sehenswertes beinhaltende, auf eine filmische, teils rhythmische, teils flächige Soundtrack-Komposition von Mikael Karlsson entworfene Choreographie schafft es nicht, all diese Elemente verständlich in Bezug zu bringen. Anstatt mittels einer geschlossenen Dramaturgie miteinander verknüpft zu werden, stehen einzelne Abschnitte nebeneinander, wobei das wiederholte quere Hineinheben einiger Tänzer durch die Autoseitenscheibe noch am ehesten als Hingucker verstanden werden kann.

Die beiden Präsenz, Präzision und sehr gute Bewegungs-Dynamik vereinenden Hauptakteure, Mackenzie Brown (Persephone) und Matteo Miccini (Hades) versöhnen ein Stück weit, auch die beiden Gruppen (warum gleich mehrere geschlechtlich verschiedene Mütter?: Irene Yang, Ava Arbuckle, Edoardo Sartori und Mitchell Millhollin in hell-grünem Outfit und seltsamen Perücken) und das in schlammigen schwarzen Hosenkleidern steckende Erdöl (Dorian Plasse, Noan Alves, Tristan Simpson, Lassi Hirvonen und Vincent Travnicek) machen das Beste aus ihren windungsvollen bzw. kriecherischen Aufgaben in einem meist auf niedrige Höhe herunter gefahrenen Raum (Bühne und Kostüme: Sami Fendall).

Das sehr geduldige Stuttgarter Publikum reagierte auf alle Stücke durchaus wohlwollend, doch die Begeisterung hielt sich in deutlichen Grenzen. Vielleicht dachte sich auch so manche(r), dass die beiden Gastbeiträge bei einer modernen Compagnie wie Gauthier Dance besser aufgehoben gewesen wären als im regulären Programm des Stuttgarter Balletts.

 

                                                                                                                      Udo Klebes

 

 

 

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