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STUTTGART/ Ballett: „NOVITZKY / DAWSON“ (Uraufführung) – vom Guten und Schlechten unserer Zeit

29.06.2024 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett

„NOVITZKY / DAWSON“ 28.6. 2024 (Uraufführung) – vom Guten und Schlechten unserer Zeit

Zwei neue Choreographien ohne vorgeplanten programmatischen Überbau zu einem Abend kombiniert und doch darin verbunden, sowohl in der inhaltlichen Aussage als auch in ihrem stilistischen Ansatz unterschiedliche Sichtweisen auf unsere Welt zu werfen. Das sorgt für spannende Kontraste und lässt dadurch die beiden Tanzschöpfer nicht als Konkurrenten gegenüber treten.

Für Roman Novitzky, dem nach Beendigung seiner Tänzer-Laufbahn in einem speziellen Vertrag als Artist in residence weiterhin ans Haus geknüpften Allround-Talent, bedeutete es dennoch eine immense Herausforderung, weil er nach zahlreichen Arbeiten hiermit erstmals den Auftrag für eine ausgedehntere Choreographie mit einem großen Ensemble und Live-Orchester erhalten und als unmittelbares Gegenüber den international erfahrenen David Dawson hatte. Doch die Akribie, mit der Novitzky seine bisherigen Stücke ausgearbeitet hatte, machte sich auch jetzt in größerem Umfang, in erweiterter Form bezahlt.

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David Moore als Protagonist mit Ensemble in „The Place of Choice“. Copyright: Stuttgarter Ballett

Die Inspiration für „THE PLACE OF CHOICE“ gab ihm Dantes „Göttliche Komödie“, wobei er deren Reihenfolge im Sinne seiner Ansicht einer derzeit eher bergab gehenden Welt umgekehrt hat und seinen stellvertretend für das Individuum Mensch stehenden Protagonisten die Abwärtsspirale vom Paradies in die Hölle gehen lässt. Dazwischen als Gegenwart das Fegefeuer, das Ringen um die richtigen Entscheidungen. Durch die Vermeidung einer Schwarz-Weiß-Zeichnung dieser Stationen wird eine schillernde Sicht auf die Pole Himmel und Hölle geboten. Dafür hat ihm Yaron Abulafia einen wandelbaren Bühnenraum mit Spiegelboden geschaffen, zuerst überwölbt von einer in unterschiedlichen Farben erleuchteten kreisförmigen Öffnung, dann gerahmt von einem massiven in dunklen Braun- und Grautönen gehaltenen Portal zu einem Art Bunker. Aliki Tsakalous Kostüme, weite Hosen bzw. kurze Kleider, später noch Umhänge, wechseln von Weiß zu Schwarz. Doch so eindeutig ist hier nicht alles. Der Protagonist bleibt dazwischen in Grau als mit sich selbst Kämpfender, um die richtigen Entscheidungen Ringender. Ihm gehört auch eine Art Prolog im zunächst leeren noch abgedunkelten Raum, mit kleinteiligen Bewegungen und Gesten im Bereich des Tanztheaters angesiedelt. Hier kann David Moore seine Stärken als Darsteller problembehafteter Charaktere ausspielen. Im weiteren Verlauf ist er aber auch als klassisch versierter Tänzer gefragt, wenn sich das Schrittmaterial in Richtung Ballett weitet, neben diesbezüglichen Strukturen auch Hebungen gefragt sind.

Das gilt im Übrigen auch für das gesamte Ensemble, wobei um den Hauptakteur eine Gruppe von Solisten im Einsatz ist, die sich auch mal paarweise zusammen tun, sein unmittelbares Umfeld verkörpert. Da zeigt sich genau, wie gut Novitzky die Tänzer kennt und ihnen deshalb jeweils passendes Profil zu geben weiß: Agnes Su, Mackenzie Brown, Marti Paixa, Henrik Erikson, Fabio Adorisio, Vittoria Girelli, Martino Semenzato, Giulia Frosi und Edoardo Sartori. Mit dem weiteren 16köpfigen Corps de ballet verdichtet sich die Choreographie immer wieder zu beschwörenden Einstellungen, wenn alle ihre Arme nach oben strecken und die Führung wellenhaft durch alle hindurch wandert oder im Gegenzug gebeugt am Bogen verharrt.

Die Auftragskomposition „Falling Fields & Pixel Paths“ von Henry Vega unterstützt diese Stationen-Reise mit zunächst auf die Streicher konzentrierten, teils variiert wiederholten, flächigen Klängen, die dann später durch impulsive Bläsereinwürfe, aber auch elektroakustische Zutaten, an Gewicht und Ausdrucksdichte gewinnt. Gegen Ende werfen alle ihre schwarzen Umhänge auf den Boden und durchkreuzen einzeln den Raum. Es bleibt also offen, in welche Richtung sich die Menschen bewegen, ob die Welt wirklich noch zu retten ist. Zusammenfassend besticht Novitzkys Blick aufs Ganze, wie er Soli, kleinen Gruppen und allen Beteiligten eine Struktur verleiht, und das Zusammenspiel aller Komponenten, während sich Einzelheiten z.T. erst nach weiteren Aufführungsbesuchen klären und dadurch vielleicht auch ein paar Längen des doch einstündigen Werks auflösen dürften.

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Friedemann Vogel und Elisa Badenes – führend in „Under the Trees Voices“. Copyright: Yan Revazov, mit freundlicher Genehmigung von David Dawson

Der Brite David Dawson hat sich noch während seiner Zeit als Tänzer von der Tradition um Kenneth MacMillan und Frederick Ashton befreit und z.B. in George Balanchine einen von Inhalten losgelösten Stil gefunden, der ihm mehr Freiheiten gab. Dies vollzog sich dann auch in seinen choreographischen Arbeiten, die in der Mehrzahl abstrakter Natur, aber trotzdem von der klassischen Schule geprägt sind. Mit „UNDER THE TREES VOICES“ (benannt nach der gleichnamigen zweiten Symphonie des vor vier Jahren viel zu jung verstorbenen Ezio Bosso) hat er jetzt ein Werk geschaffen, das seine Liebe zur Natur in einem unversiegbaren Strom von Figurationen Gestalt annehmen lässt. Dazu bedarf es keines wirklichen Bühnenbildes, ein leerer von zwei seitlichen weißen Leinwänden und in unterschiedlichen Höhen angebrachten Leuchtstäben flankierter Raum genügen (Eno Henze) ebenso wie die recht schlichten schwarz transparenten Kostüme (Yumiko Takeshima), allem Gestalt zu geben, denn das Entscheidende liegt in den Tänzern selbst, dem Ganzen aus einem Zusammenfluss einer reichhaltig bedienten klassischen Schule mit ihren spontanen Emotionen eine Lebendigkeit zu geben. Also keine bloß ausgestellte akademische Abfolge von Etuden, sondern von Hingabe und momentanen Gefühlen getragenes Erfüllen des Raumes. Damit verbunden ist auch der Glaube an die Schönheit in einer problembeladenen Welt. Dawson fasziniert, wie er diese durch eine in gewissem Sinne mathematische, klare, übersichtliche Struktur in poetische Schwingungen bringen lässt. In den fünf Sätzen der auf die Streicher konzentrierten Symphonie, die das unablässige Auf- und Abwogen von Bäumen quasi sprechend hörbar macht, reißt der dynamische Fluss nie ab, wie ein Sog transportiert sie die Tänzer durch ihren reichhaltigen Einsatz. An dieser Stelle sei das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von MD Mikhail Agrest für sein Spiel gelobt, das die Schönheit der Musik voller Dichte und Wärme zur Geltung brachte, auch wenn der Dirigent das Tempo für die Tänzer gegen Ende in schnellen Passagen hätte etwas einbremsen dürfen.

Dawsons Kunst liegt auch darin, die Tänzer gut aussehen zu lassen, ihnen weitreichende Möglichkeit zu geben, Technik, Präzision und Spontaneität gleichzeitig wirken zu lassen. Ausgiebige Überkopf-Hebungen, Pirouetten in verschiedenen Varianten, diagonal gestreckte Linien, Sprung-Kombinationen, weit nach hinten oder immer wieder nach oben gestreckte Körper mit einem gut dosierten Einschlag von Pathos – alles in beständigem Wechsel in einen unaufhörlichen Fluss gebracht. In dieser Dichte und Konzentration erinnert das an Uwe Scholz „Siebte Symphonie“.

Für Friedemann Vogel und Elisa Badenes an vorderster Front, dicht gefolgt von einem raffiniert konstruierten und von Anna Osadcenko, Jason Reilly und Clemens Fröhlich ganz gelöst umgesetzten Trio, dazu Mackenzie Brown (solistisch wieder eine Klasse für sich), Daiana Ruiz, Vittoria Girelli, Giulia Frosi, Irene Yang, Matteo Miccini, Henrik Erikson, Martino Semenzato und Satchel Tanner in weiteren tragenden, füllenden Positionen ist das ein Hinzugewinn im Ausspielen ihres Könnens. Für die Companie ein Geschenk, das Dawson zurecht „in Erinnerung an John Cranko“ nennt und ihm widmet. Und für das schmale Repertoire an sogenannten symphonischen handlungslosen Balletten eine wertvolle Bereicherung.

Erhielt Novitzky schon einhellig begeisterten Zuspruch, so war das Publikum nach Dawsons wie im Fluge vergangenen 50 Minuten hingerissen und feierte ihn und die Tänzer lange anhaltend stürmisch.

 Udo Klebes

 

 

 

 

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