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STUTTGART/ Ballett: „NOVITZKY / DAWSON“ – Kontrastreiches Repertoire

05.10.2024 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett: „NOVITZKY / DAWSON“ 3.+4.10 2024– Kontrastreiches Repertoire

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Henrik Erikson als vielschichtiger Protagonist mit Ensemble in „The Place of choice“. Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Es gibt zwei Arten von Choreographien. Solche, die den Prozess wiederholten Sehens zur tieferen Verständlichkeit erfordern und solche, die unmittelbar ihren ganzen Reichtum und ihr Zusammenwirken verschiedener Komponenten entfalten. Die beiden neuesten Stücke, die beim Stuttgarter Ballett im Juni uraufgeführt und mit denen jetzt die neue Saison eröffnet wurde, sind ein ideales Beispiel dafür. In „THE PLACE OF CHOICE“ hat der ehemalige Erste Solist und jetzt als Artist in residence beschäftigte Roman Novitzky Dantes Divina comedia am Beispiel eines Mannes, der als Protagonist im Mittelpunkt steht, orientiert an unserer eher zum Negativen tendierenden Weltlage als Rückwärtsgang vom Paradies durchs Fegefeuer in die Hölle entworfen. Der Bühnenraum und die Beleuchtung von Yaron Abulafia sowie die von Weiß zum Schwarz führenden Kostüme von Aliki Tsakalou liefern wandelbare Stimmungsbilder von Optimismus bezeugenden Farben hin zu dunkel fahlen Abgründen. Die sich mit Zunahme der Verdüsterung einstellenden Längen der Choreographie gleichen sich bei wiederholtem und auch genauerem Augenmerk auf Details durch einen Gewinn an Mitteilsamkeit aus. Im Bereich paradiesischer Zustände sorgen auch entsprechend lebhaftere und rhythmisch klare Impulse der Auftragskomposition von Henry Vega für einen wirksamen tänzerischen Verlauf von phasenweisen Pas de deux und wechselnden Gruppen-Konstellationen. Die sich in der ersten Hälfte immer wieder durchs Ensemble ziehenden Bewegungs-Muster lösen sich mehr und mehr auf bzw. nehmen parallel zum stockenderen musikalischen Fluss strengere, dazwischen auch verharrende Formen an. So manches erweist sich nun als durchaus gut strukturiert, auch wenn eine Kürzung dieses Projekt sicher intensivieren würde. Die Neubesetzung der Hauptrolle mit dem seit Beginn der Spielzeit als Erster Solist fungierenden Henrik Erikson trägt erheblich dazu bei, der Choreographie ein körperlich elastischeres und fließenderes Zentrum zu geben, weil er diesem Protagonisten durch einen flinkeren, weicheren Umgang mit Tempo-Modukationen mehr Gesicht und Ausdrucksreichtum verleiht. Dessen Ängste und Zweifel bringt, wie am ersten dieser beiden Abende wieder zu sehen war, auch der Premiereninterpret David Moore zur Geltung – jedoch mehr in eckiger und auf Dauer nicht so vielschichtiger Manier. Mit einnehmender Gestaltung in den Pas de deux Phasen bewähren sich als Alternativen Eva Holland-Nell, Aoi Sawano, Ruth Schultz und Lassi Hirvonen und fügen sich nahtlos in die doch recht lange und komplexe Choreographie ein. Als Gesamtpaket stieß diese freie und umgekehrte Version von Dantes berühmtem Epos mit offenem Ende vor allem am 3.10. auf richtig begeisterte Resonanz.

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Hohe Pas de deux-Kunst: Agnes Su und Marti Paixa in „Under the trees voices“. Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

David Dawsons in Erinnerung an John Cranko geschaffenes „UNDER THE TREES VOICES“ (so der Titel von Ezio Bossos 2.Symphonie für Streicher als akustischer Grundlage) hat sogleich bei der Uraufführung in der nahtlosen Verschmelzung von Choreographie und Musik soghaft auf das Publikum eingewirkt. Das erste Werk des englischen Tanzschöpfers für die Stuttgarter Compagnie hat auch jetzt wieder mit dem Premieren-Ensemble wie auch mit einigen neu besetzten Positionen in den 2er und 3er-Gruppen für spontane Begeisterung gesorgt. Der ununterbrochene Bewegungsfluss, hie und da durch Verzögerungen sowie auf- und abschwellende Tonströme beständig unter Spannung gehalten, lässt den kargen, eher nichts sagenden Bühnenraum von Eno Henze und selbst die Lichtregie von Bert Dalhuysen mit mehrmals verschobenen Lichtstäben total vergessen. Auch die schlicht und farblos gehaltenen Kostüme von Yumiko Takeshima lassen den Fokus ganz auf den Tanz richten, der ein vielfältiges klassisches Vokabular mit zahlreichen komplizierten Hebungen zu einer unaufhörlichen Kette verbindet. Das ist lapidar gesagt reichhaltiges Futter für eine erstklassige Compagnie und ein nicht zu unterschätzender konditioneller Akt für die 14 Beteiligten. Alternierend zu den Premieren-Interpreten mit Elisa Badenes und Friedemann Vogel an der Spitze und ergänzend zu Anna Osadcenko, Jason Reilly und Clemens Fröhlich sowie Mackenzie Brown an weiteren heraus stechenden Positionen sorgten nun die geschmeidig leichte Agnes Su an der Seite des wieder partnerschaftlich formidablen Marti Paixa sowie die frisch gekürte Solistin Mizuki Amemiya, ihre Landsmännin Aoi Sawano, Fabio Adorisio und der schon im ersten Stück positiv aufgefallene Gruppentänzer Lassi Hirvonen für ein nicht minder niveauvolles und geschlossenes Gesamtbild.

Nathanael Carré (3.10.) und MD Mikhail Agrest (4.10.) führten das Staatsorchester Stuttgart mit überwiegend genauer Korrespondenz zu den Tänzern durch den Abend.

Udo Klebes

 

 

 

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