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STUTTGART/ Ballett: NOT IN MY HANDS. Friedemann Vogel als Interpret seines Choreographie-Debuts – Berührende Faszination

25.05.2021 | Ballett/Tanz

Stuttgarter Ballett

„NOT IN MY HANDS“ Friedemann Vogel als Interpret seines Choreographie-Debuts – Berührende Faszination

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Friedemann Vogel. Copyright: Roman Novitzky

Was die durch die Pandemie quasi zwangsweise bis auf wenige Möglichkeiten ihres Berufs enthobenen Tänzer in dieser Notlage so alles ersinnen, ist die Chance den entstandenen Leerraum in anderer Form zu nutzen. So kam nun auch Stuttgarts Starsolist Friedemann Vogel, der bislang noch keine Ambitionen zum Choreographieren hat verlautbaren lassen, zu seinem choreographischen Debut, das er sich zum Ausdruck der durch die geschlossenen Theater entstandenen Gefühle sinnvollerweise selbst auf den Leib choreographiert hat. Und das allein macht angesichts seines optimal ausgerichteten und perfektionierten Körpers bereits einen Großteil der Qualität aus, die uns beim Anschauen des als Film geschnittenen und als stream gezeigten Solos begegnet.

Um die Essenz des vierminütigen Stückes auf den Punkt zu bringen sei Vogel hier am besten in seinen eigenen Worten zitiert:

„Überwältigt von der Leere, verbiegen wir uns, um sie mit Erinnerungen zu füllen, die mit den Hoffnungen und Ängsten des gegenwärtigen Moments verwoben sind. Wir lächeln und ertragen es, setzen eine tapfere Fassade auf und tun so als wüssten wir was zu tun ist, bis wir es schließlich wissen. Überwältigt von Emotionen, ohne die Möglichkeit, sie auszudrücken, geraten wir außer Kontrolle und kämpfen gegen die Einschränkungen an, die uns gleichzeitig verbinden und vorantreiben.

Denn mit den Einschränkungen kommt eine gewisse Freiheit, und mit der Isolation ein Überfluss von Raum – Raum zum Nachdenken und Raum zum Schaffen. Alles scheint unmöglich, also ist alles möglich. Es liegt weder in meiner noch in Deiner Hand, also geben wir alle Illusionen von Macht auf und überlassen uns der Ebbe und Flut. Doch selbst wenn wir allein sind, finden wir einen Weg weiterzumachen und schöpfen neue Kraft aus unserem Inneren, um uns den Herausforderungen zu stellen, die vor uns liegen.“

Zeugen schon allein diese Worte von einem tiefen Nachdenken über die Situation wie auch von einer nicht selbstverständlichen Gabe, sie in transparenten unter die Oberfläche reichenden Worten auszudrücken, so vervollkommnet Friedemann Vogel dies durch seinen körperlichen Einsatz. Der Gegensatz von Deprimierung und Kraftschöpfung aus entstandenem „Freiraum“ bietet dabei eine spannende Grundlage.

Unter Mithilfe seines ehemaligen Solisten-Kollegen und langjährigen Lebenspartners Thomas Lempertz hat Vogel ein Solo entworfen, das die gesamte Bühne des Opernhauses  und deren derzeitige Leere vor dem ebenso verwaisten Zuschauerraum als inspirierendes Symbol nutzt. Die Klavierfassung des Lacrimosa aus Mozarts „Requiem“ liefert als tiefsinnige Musikauswahl den gespaltenen Zustand von Trauer und Hoffnung.

Der erste Solist Roman Novitzky hat als inzwischen erfahrener und vielfach bewährter Fotograf Vogels Körper zu Beginn ganz nah an die Kamera heran geholt, um die Anspannung der Muskeln beim Dehnen nach hinten und beim Zusammenpressen der Hände zu zeigen. Im weiteren Verlauf folgt Novitzky seinem Kollegen aus den ungewöhnlichsten Blickwinkeln -quer von unten, auf Augenhöhe oder auch mal aus der Vogelperspektive. Kleine Sprünge auf Knien, Vor-, Seit- und Aufwärts-Streckungen der Beine und Arme sowie kreisende Bewegungen am Boden, Ausschwingen des Körpers im Port de bras, in Rondes des jambes oder Balancen artikulieren Versuche des sich Freitanzens. Der leere Raum wird als Möglichkeit für neue Ideen erschlossen und bei allem Leid mit Zuversicht erfüllt. Wenn sich Vogel (in schwarzer Hose und freiem Oberkörper) mit den Händen am Kopf fasst, sich mit der Hand über das Gesicht fährt oder gar zum stummen Schrei ansetzt, sind das berührende Metaphern, die in den unaufhörlichen Fluss der Choreographie eingebettet sind. Am Ende dieses Hin- und Hergerissenseins zwischen Verzweiflung und doch voran treibender Energie lässt Vogel als Zeichen tiefer Sehnsucht seinen Körper wie schwebend weit nach hinten fallen, bis er durch die immer weiter entfernende Kamera im Nichts verschwindet. Es muss an dieser Stelle noch einmal erwähnt werden, dass Novitzky die choreographische Intention seines Kollegen so eingefangen hat, dass körperlicher Ausdruck zum tief berührenden Medium wird.

Friedemann Vogel ist es gelungen in vier Minuten das Außergewöhnliche seines Körpers in vielen Facetten zu zeigen, es aber ganz in den Dienst seines Ausdruckswillens zu stellen. So wird nun auch im für ihn neuen Metier des Schrittemachen die Bescheidenheit und Erdung des dahinter stehenden Menschen sichtbar. Wir können nur hoffen, dass Vogel den Höhepunkt seines Tänzerlebens in optimaler Verfassung über die Pandemie hinweg retten und bewahren kann.

Der stream ist bis auf Weiteres auf dem YouTube-Kanal und der Website des Stuttgarter Balletts zu sehen.

 Udo Klebes

 

 

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