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STUTTGART/ Ballett: MAYERLING. Stuttgarter Erstaufführung und Premiere in neuer Ausstattung

Ein Fest der Ästhetik und des fesselnden Ausdruckstanzes

19.05.2019 | Ballett/Performance


Kurz vor dem Selbstmord:  Friedemann Vogel (Rudolf). Foto: Stuttgarter Ballett

Stuttgarter Ballett: „MAYERLING“ 18.5.2019 (Stuttgarter Erstaufführung und Premiere in neuer Ausstattung) – Ein Fest der Ästhetik und des fesselnden Ausdruckstanzes

Wo beginnen mit der Würdigung dieses außergewöhnlichen Ballett-Ereignisses? Nach einigem Hin- und Herüberlegen doch bei der Vorgeschichte der Entstehung. Stuttgarts Ballettintendant Tamas Detrich wollte unbedingt endlich ein abendfüllendes Handlungsballett von Sir Kenneth MacMillan fürs Stuttgarter Ballett gewinnen. Die erste Begegnung mit dem im Jahr 1978 in London uraufgeführten historischen Drama aus dem Hause Habsburg beim Stanislawski-Theater in Moskau weckte in ihm den Wunsch, diese mit  vielen starken Charakteren geradezu ideale Choreographie für die Stuttgarter Compagnie auf die Bühne zu bringen. Die bislang damit verbundene Ausstattung von Nicolas Georgiadis missfiel ihm jedoch aufgrund ihres etwas altmodisch verstaubten Charakters.


Starke Honoratioren: Marcia Haydée (Erzherzogin Sophie) und Georgette Tsinguirides (Hofdame) v.r. und Ensemble.Foto: Stuttgarter Ballett

Als Jürgen Rose 2015 für eine Wiederaufnahme seiner letzten, 1987 hier erfolgten Arbeit für Marcia Haydées „Dornröschen“ in Stuttgart weilte, wurde er spontan gefragt, ob er nach so langer Zeit und mit seinen damals 78 Jahren nochmals ein so großes Projekt angehen möchte. Auf eine unmittelbare Ablehnung folgte unter hilfreicher Mitwirkung von Haydée schließlich doch die Zusage, mit dem Zugeständnis, dass sie auch mitwirken müsse. Und so kam es jetzt auch zu einer weiteren Charakteraufgabe für die einstige Muse John Crankos: Kaiser Franz Josephs Mutter, die besonders sittenstrenge Erzherzogin Sophie. Im Hinblick auf die so historisch genau angelegte Dramaturgie von MacMillans Werk ist ihre Anwesenheit zwar ein Fauxpas, weil sie im Handlungszeitraum gar nicht mehr gelebt hatte, doch bietet Haydées Bühnenpräsenz allemal eines der i-Tüpfelchen dieser Stuttgarter Erstaufführung, gekrönt von einem mehr als viele Worte aussagenden missbilligenden Augenaufschlag, als Kaiserin Elisabeth ihrem Gemahl Franz Joseph beim Geburtstagsfest ein Portrait der mit ihm liierten Hofschauspielerin Katharina Schratt überreicht. Als weitere Überraschung entpuppte sich ihre Hofdame als Georgette Tsinguirides, unfassbar mit welch bewegender Physiognomie die 91jährige langjährige Choreologin noch einmal zu späten Bühnenehren kam. Und mit Egon Madsen wurde noch ein Dritter aus Crankos einstiger Garde rekrutiert, sein Kaiser Franz Joseph hatte die entsprechende Kontur, nur die Maske hätte etwas jugendlicher ausfallen dürfen, war der Kaiser in den 1880er Jahren doch noch keine 60 Jahre alt.

Zurück zu Jürgen Rose: mit der selten gewordenen Akribie einer detailgenauen Umsetzung historischer Belange warf sich der große Ästhet und einstige Meisterausstatter Crankos in die Arbeit, vergrub sich in die Geschichte von Österreichs tragischem Kronprinzen Rudolf, holte sich Informationen und Anregungen an den Originalschauplätzen, in Literatur und Museen, machte sich mit seinen beiden Mitarbeitern Christian Blank und Moritz Haakh auf die Suche nach selten gewordenen Stoffherstellern und ließ sogar nicht locker, bis er eine Original-Kutsche aus jener Zeit zu einem finanzierbaren Preis ergattern konnte. Dass vom Pferd bühnenmaß-bedingt nur noch der Hintern zu sehen ist, soll als humorige Anmerkung Roses nicht unerwähnt bleiben. Bis in die kleinste Facette malte er die Vorlagen nach den tatsächlichen Spielorten, die dann für die Bühnenhintergrund-Prospekte vergrößert wurden. Dabei setzte er auf eine Transparenz und Durchsichtigkeit, die den zudem seitlich offenen Bühnenräumen jegliche Schwere nahm und aufgrund ihrer reinen Schwarz-Weiß-Ausrichtung (ausgehend von den nur so bekannten Stichen und Aufnahmen dieser Zeit) die Kostüme umso bestechender zur Wirkung gelangen lässt. Auch da lag die Konzentration auf wenigen markanten, ganz nach Rose-Art nicht zu dick aufgetragenen Farben, vor allem auch zur Unterscheidung der die Hauptfigur umrankenden Frauengestalten. Ebenfalls historisch genaue Spiegel- und Schreibtisch-Kommoden, ein Himmelbett für das Brautpaar, ein Diwan und ein paar Sessel genügten zur Präzisierung der Örtlichkeiten. Die das Stück als Prolog und Epilog umrahmende Friedhofsszene (mit dem so schändlich anonymen Begräbnis von Mary Vetsera) sowie die Jagdgesellschaft sind durch Naturszenen-Prospekte beglaubigt. Auf die letzte Szene in Mayerling verweist lediglich ein Zwischenvorhang, der Ort des Doppel-Selbstmordes ist auf einen Tisch und Stühle sowie den Paravent reduziert, hinter dem die Todesschüsse fallen, und der schließlich mit Rudolf umstürzt und die beiden Leichen frei gibt – vor hell scheinendem Hintergrund. Das Licht als Symbol für die Erlösung des Kronprinzen durch den Tod – einer der ganz starken Momente des von Rose auch neu entwickelten Beleuchtungs-Konzepts.

Für das Stuttgarter Ballett mit seiner bekannten Stärke für charaktervolles Tanzen bietet MacMillans reifes Meisterwerk in der Kombination aus klassischem Grundgerüst und ausdrucks-intensivem Innenleben einen wertvollen Repertoire-Zugewinn. Der englische Choreograph hatte sich in seiner Selbstbetrachtung als Außenseiter für solche Charaktere besonders interessiert und war dadurch auf Kronzprinz Rudolf gestoßen, dessen Leben von Klein auf fremdbestimmt war. Auf Anweisung des Vaters im Hinblick auf eine militärische Karriere bis ins Letzte gedrillt und gequält, von Erzherzogin Sophie der mütterlichen Erziehung mit der Folge beidseitiger Entfremdung entzogen, mit Prinzessin Stephanie von Belgien zwangsverheiratet und vom einflussreichen Ministerpräsidenten Graf Taafe aufgrund seiner liberalen Gesinnung bespitzelt, neigte der kaiserliche Hoffnungsträger, eingezwängt in eine ihn anwidernde, auf Moral versessene und selbst so moralisch verworfene Gesellschaft zu Krankheit, Drogen und schließlich mit zunehmenden Anzeichen von Wahnsinn zu einer Todessehnsucht. In der frühreif romantisch veranlagten und eine Obsession für ihn entwickelnden Mary Vetsera fand er eine Seelenverwandte, die ihn in diesem Wunsch bekräftigte. In den zahlreichen Pas de deux unterschiedlichster Couleur kehrt MacMillan das Innerste der Personen nach Außen, legt ihre Psyche gnadenlos offen und erweitert das klassische Vokabular in einen fast experimentellen, dem Ausdruckstanz nahe stehenden Bereich mit komplizierten Verschlingungen in teils Schwindel erregender Geschwindigkeit.


Seelenverwandtschaft:  Friedemann Vogel (Rudolf) und Elisa Badenes (Mary). Foto: Stuttgarter Ballett

Für Kammertänzer Friedemann Vogel bedeutet der zu Recht als Mount Everest der männlichen Ballett-Partien bezeichnete Rudolph eine Krönung seiner weltweit führenden Laufbahn, wobei die Herausforderung dieser Rolle nicht mit den technischen und darstellerischen Ansprüchen bewendet ist, sondern sich die Frage stellt, ob die Kondition eines Künstlers ausreicht. Sieben Pas de deux und mehrere Soli von größtenteils exorbitanter Höchstschwierigkeit mit waghalsigen Schleuderfiguren, den Rücken enorm belastenden  Hebungen und auf den Boden schnellende und ebenso geschwind wieder in die Höhe treibenden Bewegungen sind zu bewältigen. Vogel gelingt es mit einer wie selbstverständlich wirkenden Körpersprache die psychischen Befindlichkeiten daraus erwachsen zu lassen, sich mit verzehrender Intensität in den zunehmenden Wahnsinn Rudolfs zu versenken und gegen Schluss hin mit beängstigender mimischer Dichte an seinem Schicksal teilhaben zu lassen. Sein Verfall wird von Szene zu Szene deutlicher spürbar.

Elisa Badenes verkörpert genau den Typ der etwas versponnen naiven und leichtfertigen Mary Vetsera, die in den Armen Rudolfs wie eine Feder und gelöst in Richtung Tod wirbelt. Die Pas de deux mit ihm flutschen bewundernswert unangestrengt und zeigen ein Paar in zuletzt harmonischer Vereinigung. Für die virtuose Spanierin war es wirklich an der Zeit, dass sie hier offiziell von Anfang an Friedemann Vogel als Partner zugesprochen bekam.


Belastete Beziehung:  Friedemann Vogel (Rudolf) und Miriam Kacerova (Kaiserin Elisabeth). Foto: Stuttgarter Ballett

Alicia Amatriain ist als kupplerische, ihre einstige Liaison mit Rudolf immer wieder aufzunehmen versuchende Gräfin Larisch genauso ideal besetzt. Den zwischen Berechnung und Verführung angesiedelten  Charakter lässt sie durch ihre unverminderte tänzerische Elastizität gut zur Geltung kommen. Das tut auch Miriam Kacerova mit ihrer feinen fraulichen Note als eigenwillig freigeistige Kaiserin Elisabeth. Bewegend ist ihr innerer Kampf, ihrem Sohn einerseits helfen zu wollen, es aber mangels mütterlichen Empfindens doch nicht zu können. Während sie eine Liaison mit dem englischen Offizier Colonel „Bay“ Middleton ( Roman Novitzky mit Noblesse und Fürsorglichkeit im Pas de deux während des Geburtstags-Feuerwerks) pflegt, tut ihr Gemahl Franz Joseph es wie schon erwähnt mit Katharina Schratt, der Maria Theresa Ullrich in einem Liszt Lied vom „Scheiden“ ihre klanglich aufgefächerte Mezzo-Stimme leiht).

Anna Osadcenko ist als Rudolfs Halbwelt-Geliebte Mizzi Caspar die passende Abwechslung freizügigeren Lebens, sein Leibfiaker Bratfisch wird von Adhonay Soares Da Silva in zwei unterhaltenden Soli technisch brilliant und locker, darüber hinaus etwas unbekümmert präsentiert. Der Pas de deux mit der auferzwungenen Gemahlin Stefanie in der Hochzeitsnacht gerät zu einem ersten bestürzend brutalen Höhepunkt von Rudolfs aus Unwillen geborener Abwehr, so dass Diana Ionescu über ihre sehr gute tänzerische Form hinaus wahrlich zu bewundern ist, wie sie trotz aller momentanen Furcht vor Rudolfs Hantieren mit einem Totenschädel und seiner Pistole die Fassung wahrt. Bei der Hochzeit hatte er mit ihrer Schwester Louise (Veronika Verterich mit anfangs lieblicher Scheu, dann sich zunehmend öffnend) in einem Pas de deux geflirtet.

Einen weiteren Handlungsstrang bilden vier mit Rudolf befreundete ungarische Offiziere, die versuchen ihn für ihre Separations-Aktionen zu gewinnen und auch mit zu seiner Zerrissenheit beitragen. Alexander McGowan, Marti Fernandez Paixa, Flemming Puthenpurayil  und Adrian Oldenburger haben im Verlauf der Handlung mehrmals, auch in den überleitenden Szenen vor dem Zwischenvorhang, Gelegenheit ihre Mission in impulsiven Sprung- und Drehkünsten zu unterstreichen. In weiteren Charakterrollen, voran Rolando D’Alesio als düster geheimnisvoller Graf Taafe und Sonia Santiago als ehrgeizig um ihre Tochter bemühte Baronin Vetsera, summieren Daniele Silingardi als Graf Hoyos, Cedric Rupp als Kammerdiener Loschek sowie Matteo Crockard-Villa, Fraser Roach, Elisa Ghisalberti und Jessica Fyfe das historisch bewiesene Personal. Das Corps de ballet teilt sich mit unterschiedlich geprägten Aufgaben in Ballgäste, Hofdamen, Kammermädchen und Dirnen, die in der Tavernen-Szene sich an die Männer heran machen, bis die Gendarmerie mit Pickelhauben das Vergnügen auflöst.

Nicht zu unterschätzen ist auch der Beitrag des Staatsorchesters Stuttgart, das die von MacMillan ausgewählte und von John Lanchberry arrangierte und hinsichtlich der Klavierkompositionen auch instrumentierte Musik von Franz Liszt konzentriert und stimmungsfördernd umsetzt, aber auch den einen oder anderen etwas holprigen Übergang dieses schweren Verfahrens nicht ganz verbergen kann. Es ist jedenfalls zu bewundern, wie doch für jede Situation passendes Material gefunden wurde, für die Ballszenen z.B. bearbeitete Schubert-Walzer, für den Pas de deux von Elisabeth und Rudolf sogar ein ihr anlässlich ihrer Krönung zur Königin von Ungarn von Liszt gewidmetes Werk, aber auch leidenschaftliche und der Zerrissenheit von Rudolf entsprechende Orchesterwerke wie Tasso oder die „Faust-Symphonie. Im Ganzen doch sehr anspruchsvolle Aufgaben, die Mikhail Agrest als Gastdirigent mit dem Orchester bis in Feinheiten hinein sauber erarbeitet hat. Auch er wurde in die Ovationen einbezogen, die mit dem Erscheinen von Jürgen Rose bis zum Schluss zu stehenden wurden und nach Lösung der Gebanntheit des Publikums bei jedem Vorhang noch an Intensität zunahmen.

Ein ganz großer Abend für das Stuttgarter Ballett und seine an bedeutenden Ereignissen gewiss nicht arme Geschichte. Kompliment an Tamas Detrich, in seiner Auftaktspielzeit einen solchen Glanzpunkt gesetzt zu haben!

Udo Klebes

 

 

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