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STUTTGART/ Ballett: „LULU. EINE MONSTRETRAGÖDIE“

Erstaunliche Variationen

24.06.2018 | Ballett/Performance


Elisa Badenes (Lulu)  und Timoor Afshar (Maler Schwarz). Copyright: Stuttgarter Ballett

Stuttgarter Ballett

„LULU. EINE MONSTRETRAGÖDIE“ 23.6.2018 – Erstaunliche Variationen

Nach Alicia Amatriain hat es jede Tänzerin schwer, Christian Spucks anspruchsvoller choreographischer Zeichnung der gleichzeitig Opfer wie Täter markierenden Kindfrau so vollkommen gerecht zu werden. Und doch funktioniert bzw. fasziniert das nach längerer Pause wieder einstudierte Erfolgswerk des Choreographen auch mit einigen Abstrichen oder treffender gesagt möglichen Interpretationsvarianten.

Elisa Badenes jedenfalls ist ihrer reiferen Kollegin an Bewegungs-Elastizität, am fließenden Auf- und Zusammenklappen der Beine, an akrobatischer Balance ebenbürtig und flutscht nur so durch die Arme und über die Schultern ihrer zahlreichen Verehrer oder besser gesagt der oberflächlichen Vergnügungen frönenden Freier. Dabei personifiziert sie in ihrer Mädchenhaftigkeit, phasenweise sympathisch lieben Hingabe mehr die Unschuld, weniger die laszive und berechnende Verführung. Interessanterweise atmet auch ihre Begegnung mit Jack the Ripper zuerst die Ehrlichkeit eines wahren Liebesakts, erst wenn die ihr zugetane Gräfin Geschwitz mit Fäusten auf den geheimnisumwitterten Prostituiertenmörder eintrommelt, bricht das Tier aus Matteo Crockard-Villa. Aber nicht so brutal, etwas zurück genommener als seine Vorgänger. Mehr Profil und Charakterstärke gibt der Halbsolist dem im ersten Akt von Lulu erschossenen Dr. Schöning. Da vermittelt er glaubhaft den durchaus ernsthaft um Lulu bemühten Gönner und Erzieher. Für den erstmals ins solistische Rampenlicht tretenden Corps-Tänzer Daniele Silingardi ist der gerne etwas zwischen den anderen Männern verblassende Sohn Alwa Schöning eine anständige Herausforderung, die er mit passend verklemmtem Auftreten und schon recht sicherem Partnern mehr als nur ordentlich meistert.


Intensives Portrait: Miriam Kacerova (Gräfin Geschwitz). Copyright: Stuttgarter Ballett

Die beiden schillerndsten Figuren bleiben doch Lulus langjährigster Begleiter Schigolch und die Lulu Avancen machende Gräfin. Als ersterer besticht Fabio Adorisio mit effektiv schnellem, das Skurrile und Windige der Gestalt unterstreichendem Beineinsatz sowie präziser und pointierter Verlautbarung der im originalen Englisch gehaltenen Schilderungen von Jack the Rippers historisch belegten Opfern. Miriam Kacerova wiederum gibt der durch ihren Status als Adlige besonders prekären Lesbin Geschwitz eine spannende Mischung aus  klassischer Eleganz, Empfindsamkeit und nach außen hin demonstrierter Stärke. Im ersten Akt leiht ihr die als Tänzerin inzwischen ausgeschiedene, aufgrund ihrer sängerischen Begabung jedoch zurück geholte Magdalena Dziegielewska ihre Stimme für Nina Simones „Wild is the wind“.

Im komplett ausgetauschten Solisten-Ensemble sind noch Timoor Afshar als überzeugend naiver Maler Eduard Schwarz, der sich nach der Konfrontation mit Lulus wahrem Wesen die Kehle durchschneidet, sowie der in seiner Größe herausragende Adrian Oldenburger als raubeinig wilder Rodrigo zu erwähnen – beides Gruppentänzer mit Aufstiegs-Potenzial.

Auch Fraser Roach, der als Freier fast schon Jack the Ripper-Physis ausstrahlt und den dazwischen fahrenden Alwa meuchelt, Matteo Miccini als weiterer Sex-Kandidat sowie ein wiederum geschlossen engagiertes Ensemble tragen mit zur knisternden Atmosphäre der Aufführung bei. Nicht zuletzt auch die vom Staatsorchester Stuttgart unter James Tuggle unter Spannung gehaltene, so ideal zur Kontrastwirkung beitragende Musik von Schostakowitsch, Berg und Schönberg.


Ensemble der Freier. Copyright: Stuttgarter Ballett

Der Applaus setzte nach dem den Atem stocken lassenden Ende Lulus zwar erschreckend früh ein, war dann aber in seiner mit vielen Ovationen angereicherten Intensität umso gerechtfertigter.

Udo Klebes    

 

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