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STUTTGART/ Ballett: Gauthier Dance Stuttgart „FIRE WORKS 40 Jahre Theaterhaus Stuttgart“ (Premiere) – mit 10 Uraufführungen und 4 Wiederaufnahmen

04.05.2025 | Ballett/Performance

Gauthier Dance Stuttgart

„FIRE WORKS 40 Jahre Theaterhaus Stuttgart“ 30.4. (Premiere) – mit 10 Uraufführungen und 4 Wiederaufnahmen

 

Jubiläen sollen und wollen gefeiert werden. Diesmal stand keines bei Gauthier Dance selbst an, aber die Spielstätte der 2007 von Eric Gauthier nach dessen Ausscheiden beim Stuttgarter Ballett gegründeten Tanz-Compagnie, das Theaterhaus auf dem Pragsattel oberhalb des Zentrums bereichert seit 40 Jahren das kulturelle Angebot der Landeshauptstadt um wesentliche künstlerische Beiträge. Dominierend war dabei die Musik, vor allem der Jazz mit inzwischen legendären Konzertauftritten aller diesbezüglichen Größen.

Diese Gegebenheit nahm der unverwüstlich engagierte und das Publikum durch seine locker amüsanten Moderationen bei der Stange haltende Eric Gauthier als Ausgangspunkt für die Programmplanung zu diesem Jubiläum. Er lockte teils hier arrivierte, teils neue Choreographen mit einer umfangreichen Liste an Musik-Titeln, diese in Tanz zu verwandeln. Das Interesse war so groß, dass nun im ersten Teil dieses Abends sage und schreibe 10 Uraufführungen auf einem roten Teppich präsentiert werden konnten. Seitlich flankiert von Stühlen, auf denen die Tänzer auf ihre Auftritte warteten und einer Garderobe der allesamt von Gudrun Schretzmeier gefertigten Kostüme.

Gerahmt wurden diese Neuheiten von Barak Marshalls (Hauschoreograph) zweiteiligem „GATHERING“ zu bläser knackigen Folklore-Klängen: ein idealer Auftakt und Abschluss für die Compagnie, wo sie in immer kurz in den Mittelpunkt tretenden Duos allerlei Fertigkeiten vom synchronen Miteinander bis zu Ansätzen individueller Bewegungs-Kombinationen beweisen konnten. Anfangs diszipliniertes Verhalten bricht in Party-Stimmung aus. Als köstliche Schluss-Pointe sinken sie ermattet zu Boden.

Mauro Bigonzetti kehrte wieder mal nach Stuttgart zurück, dort wo 1997 seine internationale Karriere begonnen hatte, und zeigte in „FULLY BLUE“ zu einem Song von Chet Baker ein Paar, das sich im für den Choreographen bekannt körpernahen Stil auf althergebrachte Weise („I’m old fashioned“) passend zur Musik aneinander heran tastet. Von Bigonzetti war zwar schon Bezwingenderes zu sehen, doch wie Garazi Perez Oloriz und Shawn Wu diese Beziehung mit viel körpersprachlichem Know-how zum Leben erwecken, verrät dann doch mehr als durchschnittliche Qualität.

Gauthiers Landsmännin Dominique Dumais steuerte mit „HOLD ME NOW“ zu Laurie Andersons „O Superman“ ein etwas rätselhaftes Stück für 4 Tänzerinnen und 4 Tänzer in schwarzen Hosen und weißen Hemden bei, in dem mehrmals einer aus der fast mechanisch bewegten Gruppe ausbricht und wieder zurück gedrängt wird. Vielleicht würde ein wiederholtes Sehen mehr Aufschluss bringen.

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Filigranes Juwel: Shori Yamamoto und Sidney Elizabeth Turtschi in „Monstruo Grande“ von Marco Goecke. Copyright: Jeanette Bak

Erfreulich, dass die Wogen wieder geglättet sind und Marco Goeckes unverwechselbare Choreographie-Kunst nicht einem ungerechten Dogma künstlerischer Vernichtung geopfert wurde. Es wäre ein echter Verlust gewesen das nun entworfene „MONSTRUO GRANDE“ nicht sehen zu können – ein solistisch beginnendes und sich dann zu einem Duo weitendes „Gespräch zu Gott“ voller nun immer fließender ineinander führender und verfeinerter, miniaturhaft kostbar nerviger Hand-und Finger-Führungen, aber nun auch integrierten Etuden-Anleihen der klassischen Schule. Angetrieben und unter Strom gesetzt von Mercedes Sosas ergreifenden Gesängen, haben Shori Yamamoto und Sidney Elizabeth Turtschi Goeckes Sprache wie viele andere TänzerInnen auch so verinnerlicht, dass keine Distanz entsteht. Alles in allem eine Wucht!

„HYMN TO FREEDOM“ lautet der Beitrag von Benjamin Millepied zum gleichnamigen Musiktitel des Oscar Peterson Trios. Vier junge Menschen in unterschiedlichen Farbkombinationen gekleidet, symbolisieren die Buntheit an Kulturen und äußern bzw. feiern die Freiheit in einem gelöst leichten, ja unbeschwerten Stil.

Die erstmals hier vertretene Nachwuchs-Choreographin Sofia Nappi nahm sich in „CHARLIE“ Charles Aznavours italienische Version von „La Bohème“ als unterhaltsame Grundlage für sieben TänzerInnen, die in passend nostalgischen Kostümen Beziehungen im Künstlerleben in schönen flotten Schrittfolgen, aber auch kurzen kantigen Akzenten ausleben.

Ernste, ja nachdenkliche Töne schlägt Johan Inger in „A THOUSAND THOUGHTS“ zu Aufnahmen des Kronos Quartetts an, ein- und abgeläutet durch feierliche Glockentöne. Im Mittelpunkt stehen Bruna Andrade und Barbara Melo Freire als enge Freundinnen oder vielleicht Geliebte, die nach einem tief schürfenden und berührenden Pas de deux mehrmals an den Ort der Erinnerung zurück kehren, um Abschied zu nehmen. Doch jede geht in eine andere Richtung davon. Ein zartes und doch sehr intensives Stück Tanzkunst.

In „THINKIN ABOUT!“ your body zum gleichnamigen Song von Bobby McFerrin lässt Stijn Celis zwei Tänzer (Andrew Cummings und Shai Ottolenghi) sowie eine Tänzerin (Anneleen Deedrog) in schwarzer Unterwäsche und übergeworfenen verschiedenfarbigen Sakkos in Anspielungen ihr Körpergefühl reflektieren und dabei auch komische Elemente in die Choreographie einbinden.

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Surreales Geschwister-Paar: Sidney Elizabeth Turtschi und Luca Pannacci in „Carousel“ von Virginie Brunelle. Copyright: Jeanette Bak

Luca Pannacci und Sidney Elizabeth Turtschi sind das zentrale Geschwister-Paar in Virginie Brunelles „CAROUSEL“ zu einer Klavierduo-Bearbeitung eines Philipp Glass-Titels aus „Les enfants terribles“. In violetten Ganzkörper-Monturen hinterlässt das einen etwas surrealen, aber in erfrischend klassisch-modern verflochtenen Bewegungen starken Eindruck.

Wie schon mehrfach bei Gauthier Dance zu sehen gewesen, sind komplexe Abläufe und schnelles Tempo die Markenzeichen des Kreters Andonis Foniadakis. Jetzt hat er für eine Frau und drei sie immer wieder aufgreifende Männer in glänzend türkisblauen Überhängen mit „SHARONA“ zur gleichnamigen Nummer von Erika Stucky eine wummernd schräge, aber auch anspruchsvolle und mitreißende Choreographie geschaffen.

Der zweite Teil brachte die Wiederbegegnung mit vier sehr unterschiedlich gearteten Stücken. Zuerst „LICKETY-SPLIT“ (= unverzüglich, blitzschnell) von Alejandro Cerrudo, das bereits seit 2011 zum Repertoire gehört und letztes Jahr zum Start der Gauthier Juniors wiederaufgenommen wurde. Die sechs Youngsters schwimmen bereits jetzt auf einer Erfolgswelle mit internationalen Gastspielen und tanzen diese technisch facettenreiche Begegnung von drei Paaren mit einer Selbstverständlichkeit nicht nur brav an der Indie-Folk Musik entlang, sondern mit Schmackes und spürbarer innerer Beteiligung. Eric Gauthiers 2019 für den dänischen Star-Tänzer Johan Kobborg kreiertes „ABC“ – eine auf Schnellkommando-Abrufung des gesamten Ballett/Tanz-Stichwort-Vokabulars ausgestelltes Solo, das Shori Yamamoto konditionell mühelos schafft, dabei eine tadellose Technik zeigt und eine diesem Drill gut bekommende Portion Ironie beimischt.

Noch einmal Marco Goecke und noch einmal ein Volltreffer: „INFANT SPIRIT“, 2018 für Gauthier Dance als Verbeugung vor seinem verstorbenen Idol Pina Bausch geschaffen, ist ein ganz starker Tanz-Monolog, den nun die reife und erfahrene Bruna Andrade als Studie künstlerischen Erwachens in Verbindung mit zwei Songs von Antony and the Johnsons zu einer auf leise Weise emotional erfüllten Auseinandersetzung mit sich selbst erhebt.

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Soghaft Feuerwerk-Finale:  Gauthier Dance + Juniors in „Bolero“ von Andonis Foniadakis. Copyright: Jeanette Bak

Der „BOLERO“ ist allemal ein ideales Finale, so auch an diesem Abend wieder Andonis Foniadakis Version, die bereits den Abschluss des ersten Programms der Junior Compagnie 2024 bildete. Jetzt wird sie mit Anschwellen des Rhythmus der Musik Ravels noch von der halben Haupt-Compagnie ergänzt und zündete so in komplexen, aber auf Dauer etwas strukturlosen Bewegungsmustern auf der winzigen Fläche kleiner Trampolins ein soghaftes Feuerwerk – nicht sinnlich aufgeladen wie bei Béjart, dafür als pure Tanzlust. Jedenfalls auch eine der zahlreichen Raketen dieses würdigen Jubiläums-Abends.

Udo Klebes

 

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