Stuttgarter Ballett
„GALA zum 20Jahr-Jubiläum von REID ANDERSON 24.7. 2016– Finale mit Superhelden
Der gefeierte Jubilar Reid Anderson nach dem Finale. Copyright: Stuttgarter Ballett
Nachdem am Vorabend die John Cranko-Schüler und Gastschüler aus den Tanzausbildungszentren London, Toronto und Hamburg Intendant Reid Anderson ihre Reverenz erwiesen haben – darunter auch eine Uraufführung, Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, choreographiert von Hauschoreograph Demis Volpi, den Halbsolisten Katarzyna Kozielska und Louis Stiens sowie dem Gruppentänzer Fabio Adorisio – bildete ein Galaabend der Compagnie und internationaler Gasttänzer den festlichen Abschluss der 10tägigen Ballett-Tage. Beide Veranstaltungen wurden übrigens auf eine Großleinwand in den Schlossgarten übertragen, womit die 2007 von Anderson initiierte Reihe „Ballett im Park“ bei seiner nun zehnten Ausgabe auch bereits ein Jubiläum feiern konnte.
Die Eröffnung des Programms erfolgte durch alle Altersklassen der Cranko-Schule mit sich beständig steigernden Etuden von einfachen synchronen Gruppen bis zu anspruchsvollen Küren – ein ebenso beeindruckender Start wie das anschließende Defilé der Compagnie von den Corps-Tänzern bis zu den führenden Solisten.
Danach war erst mal das gesprochene Wort an der Reihe. Ministerpräsident Wilfried Kretschmann und Oberbürgermeister Fritz Kuhn als Stellvertreter der beiden Geldgeber der Staatstheater überbrachten viel lobende Grußworte, zweiterer als Überraschung gar die Urkunde zur erlangten deutschen Staatsbürgerschaft für den Jubilar und seinen Stellvertreter und künftigen Nachfolger Tamas Detrich, was Anderson in seinem spontanen Conferencier-Stil mit dem Bekenntnis quittierte: „Ich bin ein Stuttgarter“. Bundestagspräsident Norbert Lammert als Vertreter der Bundesrepublik setzte den verbalen Huldigungen indes die Krone auf, indem er, obwohl die beiden vorgenannten Herren bereits alles gesagt hatten, als bekannter Tanzfan mit feinem Humor die Kunst und das Wirken Andersons mit trefflichen Formulierungen geschliffen auf den Punkt zu bringen vermochte.
Dann war die Bühne endgültig frei für die Tanzkunst.
Mit fließenden Bein-Überwürfen – Anna Osadcenko und Jason Reilly in Galilis „In Short“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Dass unter den Jubiläums-Häppchen auch Novitäten waren, versteht sich bei Andersons intensiver Förderung von Choreographen von selbst. Der ehemalige Erste Solist Douglas Lee kreierte unter dem Titel „ARCADIA“ einen Pas de deux für Alicia Amatriain und Constantine Allen, dessen hell friedliche Ausleuchtung titelgemäß einen glücksselig, idyllischen Ort evozierte, und der die typische Handschrift des Briten durch skulpturelle Körperverwicklungen in athletischem, klassisch basiertem Stil verrät. Die beiden Ersten Solisten sahen darin nicht nur gut aus, sie beherrschen dessen Voraussetzungen ohne sichtbare Schwierigkeiten. Fließenden und in seinem Verlauf originelle Formen annehmenden Tanz bestimmt „IN SHORT“ von Itzik Galili, den Anna Osadcenko und Jason Reilly zu einer live gespielten Cembalo-Version von „Greensleeves“ zu einem leicht konsumierbaren Hingucker machten. Edward Clug steuerte mit „DAY DREAMERS“ einen atmosphärischen Pas de deux bei, in dem Hyo-Jung Kang und Pablo von Sternenfels in einem sich beständig öffnenden Lichtkegel teilweise wie in zeitlupenhafter Verlangsamung ein verdichtetes Kammerspiel entfalteten. Am wenigsten Kontur unter den Uraufführungs-Gaben zeigte Kevin O’Day’s „OVERTURE TO A PRELUDE“ in einem etwas verkopft und doch lässig wirkenden Stil, durch den die vier Tänzer Myriam Simon, Ami Morita, David Moore und Roman Novitzky ein offensichtliches Beziehungsgeflecht zweier Paare bei allem Einsatz nicht klar vermitteln konnten.
Als relativ neue Kreation (Februar 2016) brachten Julien Favreau und Kathleen Rae Thielhelm vom Béjart Ballet Lausanne „COULEUR BLUES“, einen zweiteiligen Pas de deux ihres Compagnie-Leiters Gil Roman mit und betonten zu leicht swingenden Percussion-Klängen auf schattiert ausgeleuchtetem Grund mit nonchalanter Körperlichkeit unterschiedliche Stimmungen menschlicher Zweisamkeit.
Als einstiger Stuttgarter Publikumsliebling kehrte Thomas Lempertz ins Opernhaus zurück, um sein im letzten Winter im Rahmen des Theaterhaus-Projekts „GREYHOUNDS“ von Marco Goecke für ihn geschaffenes Solo als erstaunlich gut trainiertes und körpersprachlich starkes Beispiel eines schon vor vielen Jahren ausgestiegenen Tänzers zu präsentieren. An den ersten großen Uraufführungs-Erfolg in Andersons Einstieg-Saison 1996/97 erinnerte der seither immer wieder bei Galas getanzte Mittelteil-Pas de deux aus Mauro Bigonzettis „KAZIMIR’S COLOURS“ zur tief eindringlichen Musik Schostakowitschs. Die körperliche Dichte, die der erfolgreiche Italiener seiner Schöpfung einverleibt hat, kam in der höchst transparenten und knisternd spannenden Umsetzung durch die hochkarätige Kombination aus Stuttgarts Star-Solist Friedemann Vogel und Diana Vishneva als Gast aus St.Petersburg bzw. New York, bestechend klar zur Geltung.
Einen auf stille Art originellen Beitrag leistete das ehemalige Stuttgarter bzw. jetzige Berliner Tänzerpaar Elisa Carillo Cabrera und Mikhail Kaniskin mit dem Prelude aus Nacho Duatos Bach-Ballett „FORMS OF SILENCE AND EMPTINESS“. Mit viel Sensibilität schlüpfte er in die Rolle des Komponisten und bearbeitete seine geschmeidige Partnerin zu Klängen aus der Solo-Sonate wie ein Cello mit dem Bogen, mal in streichelnder, mal in traktierender Weise.
Mit den vom Hamburg Ballett gastierenden Solisten Helène Bouchet und Carsten Jung kommen wir zu den Handlungs-Ballett-Ausschnitten. Das einfühlsam aufeinander abgestimmte Paar vermochte einen Pas de deux aus John Neumeiers „LILIOM“ auch aus dem Kontext gerissen als ideales Beispiel für die erzählerische Genauigkeit des Hamburger Ballettdirektors zu veranschaulichen, unterstützt von der phantasievoll aus Streichern, Harfen und Akkordeonklängen bestimmten Musik von Michel Legrand. Aus Neumeiers in Stuttgart uraufgeführter „KAMELIENDAME“ brachten Alicia Amatriain und Mathieu Ganio vom Pariser Ballett den 2.Akt-Pas de deux als immer wieder faszinierendes Vorbild höchst poesievoll zum Schwingen gebrachter Verliebtheit. Leider verfiel die luftig leichte spanische Ballerina neben dem ausgeglichenen Ètoile wieder einmal in eine zu gezierte Mimik. Losgelöst von einer Handlung wie im Cranko-Pas de deux „HOMMAGE A BOLSHOI“ kam ihre Ballerinen-Aura viel natürlicher zum tragen. Das mit glanzvollen Posen und riskanten Hebeaktionen gespickte Stück geriet auch dank ihres größtmögliche Sicherheit bietenden Partners Jason Reilly zur vorbildlichen Demonstration klassisch akademischer Tugenden.
Die weiteren Gänge dieses 18teiligen Menus boten Repertoire-Klassiker in Edelstein-Qualität. Nach der vom Corps de ballet in der teilweise aufgebauten Ball-Szenerie aus „ONEGIN“ festlich vorgeführten Polonaise ermöglichte dieser Raum mit den Gruppentänzern als Zuschauern das passende Umfeld für den großen Hochzeits-Pas de deux aus „DORNRÖSCHEN“, von Anna Osadcenko und dem vom Bolshoi Ballett Moskau gastierenden Semyon Chudin ganz à la russe erfüllt; sie mit akzentreich gesetzten Spitzenbalancen, er mit einer perfekt austarierten Linie, die einen organischen Wechsel von Pirouetten und schwebend leicht durchmessenen Manege-Sprüngen garantierte.
Den Vogel aller Ballerinen dieses Abends schoss indes die zierliche Elisa Badenes ab, zuerst als verführerisch lockender Schwarzer Schwan in Crankos „SCHWANENSEE“-Version mit spielend leicht hingewirbelten Endlos-Fouettes, gegenüber denen Constantine Allen als erster Vorgeschmack seines künftig anstehenden Siegfried mit ebenso schmelzender Prinzen-Attitude wie gleichmäßigen Drehungen durch aus Stand halten konnte.
Die absolute Krönung – Elisa Badenes und Friedemann Vogel im „Tschaikowsky-Pas de deux“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Den absoluten Knüller lieferte passend als letzter Programmpunkt der super-virtuose „TSCHAIKOWSKY-PAS DE DEUX“ von George Balanchine – ein Gipfelwerk klassischer Tanzkunst, den wiederum Elisa Badenes, jetzt gemeinsam mit Friedemann Vogel mit einer sprachlos machenden Selbstverständlichkeit erklimmten. Bis in die Fußspitzen entfachten die beiden ein lustvoll ausgekostetes und durchgängig weich abgefedertes Feuerwerk an Spitzen-Auszierungen bzw. sprungtechnischen Überraschungen. Das Haus tobte! Und doch hatte die Compagnie noch einen Trumpf im Ärmel: das von Tamas Detrich als spezielles Präsent choreographierte Finale –ein von allen sichtbar genossener Ausflug in „CHORUS LINE“ – und so warfen sie alle in authentischem Show-Silberglitzer ihre Beine synchron in die Höhe und sangen dazu noch. Vielleicht sollte sich Anderson überlegen zum Ende seiner Amtszeit die Compagnie nach langer Zeit wieder einmal in Musical-Gefilde zu führen.
Finale der ganzen Compagnie und der Cranko-Schüler. Copyright: Stuttgarter Ballett
Als letzter Höhepunkt wurden noch die in der vergangenen Spielzeit im Jahresprogramm als Superhelden phantasievoll eingekleideten Ersten Solisten im Hintergrund auf einer versenkten Treppe nach oben gefahren. Unter entsprechend ausgelassener Stimmung mit Blumen, Luftballons, bunten Bändern und Glitzer-Papier , einem Kniefall von Tamas Detrich vor dem Jubilar (so wie dieser es bisher vor älteren Koriphäen immer wieder getan hatte) konnte sich Anderson lange feiern lassen.
James Tuggle und Wolfgang Heinz als wechselnde Leiter des vielseitig geforderten Staatsorchesters Stuttgart wurden mit den Musikern in den Jubel einbezogen.
Ein unvergessliches Fest ganz nach Stuttgarter Ballett-Art – auch schon eine Tradition.
Udo Klebes