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STUTTGART/ Ballett: ENDSTATION SEHNSUCHT – Zerbrechliche Schönheit contra Boxer

11.10.2015 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett: „ENDSTATION SEHNSUCHT“ 9.10.2015 – Zerbrechliche Schönheit contra Boxer

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Leidenschaftlich freizügig: Daniel Camargo (Stanley) und Angelina Zuccarini (Stella)

Bevor John Neumeiers fesselndes Tanzdrama nach Tennessee Williams berühmtem Theaterstück sicher wieder für leider viele Spielzeiten im Fundus pausiert, kam es noch zu einer letzten, mit besonders viel leidenschaftlichem Furor erfüllten Aufführung. Myriam Simon durch das stürmische Wechselbad der Südstaaten-Lady aus klammernder Erinnerung und höllisch empfundener Gegenwart zu folgen, ist ein ebensolch hin- und her beutelndes Erlebnis zwischen purer Freude und beängstigender Rollen-Identifikation. Ihr schönes Gesicht mit in vielen Farben leuchtenden Augen, deren Glanz immer wieder an eine glückliche Vergangenheit erinnert und dann so leidvoll in die Leere gerichtet ist, ihr zarter, durch eine abgerundet beherrschte Technik gleichsam jeder Situation gehorchender Körper und ein ohne künstliches Hinzutun spontan erzieltes, glaubwürdiges Spiel bündeln sich zu einer Intensität, die erhöhtes Mitgefühl hervorruft. Zumal ihr Daniel Camargo in der Rolle ihres proletenhaften Schwagers Stanley an diesem Abend mit fast beängstigender Provokation begegnet. Entfesselt zeigt er sich bereits im Liebesakt mit seiner Frau Stella und im Boxkampf mit seinem Kumpanen Mitch, ehe er in der Vergewaltigung Blanches mit der Leidenschaft eines wild gewordenen Tiers einen atemberaubenden Höhepunkt setzt, dass um deren Zustand ernsthaft gebangt werden muss. Ehrlich gesagt: ganz so viel Realität benötigt die Bühnenkunst denn doch nicht. Wie der junge Brasilianer diesen vom Sex getriebenen polnischen Einwanderer innerhalb von wenigen Monaten in nur vier Aufführungen entwickelt und zu vollster Auslebung gefunden hat, verdient bei aller Grenzüberschreitung an diesem Abend große Bewunderung.

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Zarte Schönheit trifft auf provokativen Boxer: Myriam Simon (Blanche), Daniel Camargo (Stanley) mit Angelina Zuccarini (Stella). Copyright: Stuttgarter Ballett

 

Die schauspielerische Durchdringung, die der jüngst zum Solisten aufgestiegene Robert Robinson in den meisten seiner bisherigen Partien gezeigt hat, macht auch seine Gestaltung des Mitch zu einer differenzierten Charakterstudie zwischen Verunsicherung, tiefem Gefühlserwachen und schlussendlicher Verabscheuung. Abgesehen von dieser mimischen Feinarbeit wird seine Sprungkraft immer ausgreifender. Wie überhaupt Neumeier hier inmitten expressivst sprengender Momente die zentralen Formen des klassischen Spitzentanzes in einen freizügigen Bewegungskanon einbindet, erhöht noch das Tanzerlebnis. Z.B. Angelina Zuccarini, die die Stella sehr offensiv und lässig tanzt und dabei dennoch einige herkömmliche Spitzendrehungen mit ihrer ausgeprägten Präzision und Attacke hinpfeffert. Oder der gerade erst dem Eleven-Dasein entwachsene Marti Fernandez Paixa, der als Blanches homosexueller und schließlich Selbstmord begangener Mann Allan schöne Arabesquen hinzirkelt und dabei trotzdem Zerrissenheit zwischen den Fronten ausstrahlt.

Dass die drei Männer aus Blanches halbseidener Vergangenheit schon stärker besetzt waren als mit Pablo von Sternenfels, der den Soldaten wohl mit tänzerischer Kraft, aber zu wenig abstoßender Schmierigkeit gestaltet, sowie Alexander Mc Gowan und Roland Havlica, schmälert den Gesamteindruck dieser überwältigenden Vorstellung keineswegs. Auch das vielfach eingesetzte Corps bedient die Bandbreite zwischen großbürgerlicher Gesellschaft und hektischem Straßenvolk mit jener Dichte, die es unmöglich macht, während der gut eineinhalb Stunden Spieldauer die Augen auch nur für kurze Momente von der Bühne abschweifen zu lassen.

Große Ergriffenheit nach dem Verstummen von Schnittkes treffgenauer Psycho-Musik machte schließlich verdient rauschendem Applaus und vielen Ovationen Platz.

Udo Klebes

 

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