Stuttgart
15.07.2024: „EIN ABEND MIT FRIEDEMANN VOGEL“ – 25 Jahre beim Stuttgarter Ballet – Jubiläum für einen Ausnahmetänzer
Ein besonderer Abend für einen besonderen Tänzer: Ausnahmekünstler Friedemann Vogel feiert in der Spielzeit 2023/24 sein Jubiläum von 25 Jahren als Mitglied der Compagnie. Die Vorstellung anlässlich dieses Jubiläums war sofort ausverkauft, obwohl sie am Anfang der Spielzeit noch gar nicht auf dem Spielplan stand. So etwas kennt man sonst nur bei Konzerten von Popstars, schließlich ist der Erste Solist und Kammertänzer am Staatstheater Stuttgart für die Ballettwelt tatsächlich ein Weltstar.
Tamas Detrich, Intendant des Stuttgarter Balletts, eröffnete den Abend mit dem Satz „seid ihr alle wirklich nur für Friedemann Vogel gekommen?“ der natürlich für Aufheiterung beim Publikum sorgte. Detrich erklärte, dass es nur den einen „schwarzen“ (i. e. nicht verplanten) Abend im Kalender der ganzen Spielzeit gab, an dem diese Vorstellung noch stattfinden konnte und dass dies Dank des besonderen Einsatzes aller Beteiligten – Tänzern und MitarbeiterInnen des Stuttgarter Balletts – möglich war. Der Erlös aus den Einnahmen kommt dem Nachwuchs der John Cranko Schule zugute.
Für den Abend wurde – wie konnte es auch anders sein – ein besonderes Stück ausgewählt, das nur wenige Tänzer auf der Welt tanzen dürfen und gleichzeitig eine der Paraderollen von Friedemann Vogel darstellt: „Boléro“ von Maurice Béjart zur Musik von Maurice Ravel, das sonst gar nicht auf dem diesjährigen Spielplan steht und einige Jahre hier auch nicht mehr geprobt wurde. Dennoch wurde auch Dank der Foundation Maurice Béjart diese einmalige Vorstellung möglich gemacht und das gesamte Männerensemble von 32 Tänzern begleitete den gefeierten Jubilar. Oben auf dem roten, runden Tisch zeigte Vogel einmal mehr, was ihn als Ausnahmetänzer und -persönlichkeit ausmacht. Als er in der Spielzeit 2010/2011 das Stück zum ersten Mal tanzte, versetzte er während des Jubiläums-Galaabends zu 50 Jahren Stuttgarter Ballett damit auch Gäste aus der ganzen Welt in Staunen und Begeisterung. Wie er beginnend in der Dunkelheit, in der lediglich Hände im Scheinwerferlicht immer wieder am Körper entlang nach unten gleiten, in knappen 15 Minuten ein Feuer aus Sinnlichkeit entfachen und es bis zur entfesselten Ekstase der Tänzermenge steigern konnte, war bereits damals wie eine Offenbarung.
In sich ruhend und explosiv zugleich: Friedemann Vogel mit Ensemble in „Boléro“ von Maurice Béjart. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Der inzwischen als Tänzer und Interpret wesentlich gereifte Erste Solist zeigte an seinem Jubiläumsabend eine in sich ruhende Perfektion, die dann wie ein fokussierter Vulkan ausbricht. Alle Schrittfolgen tanzt er mit maximaler Amplitude und der genau entsprechenden Intensität. Dabei wirkt alles mühelos, als wäre seine Energie unendlich. Damit zieht er auch die Tänzer um sich immer mehr in seinen Bann, bis er sie am Ende durch eine wie magisch wirkende Drehung mit nach oben gestreckten Armen, ähnlich einer letzten aufflackernden Feuerflamme, erlöst und alle gleichzeitig mit ihm wieder in der Dunkelheit versinken.
Namhafte Solisten stehen danach schweißgebadet und außer Atem vom Tisch auf, nicht so der dabei immer noch jung wirkende Vogel, der sein einzigartiges Niveau in einem Alter zeigt, in dem weltweit sicher nur sehr wenige Erste Solisten überhaupt noch tanzen. Wie er erneut die Rolle präsentiert, erstaunt nach wie vor (das kann man nicht oft genug wiederholen) und berührt zugleich. Lange Standing Ovations gab es vom Publikum, das den Ausnahmekünstler gar nicht mehr von der Bühne gehen lassen wollte.
Gehen musste der Publikumsliebling jedoch vorerst dann doch, um sich umzuziehen, denn der Abend wurde mit einer Gesprächsrunde fortgesetzt, moderiert von Vivien Arnold, Direktorin Kommunikation und Dramaturgie des Stuttgarter Balletts, die gleich am Anfang versicherte, dass Friedemann Vogel bald dazu stoßen würde. In der Zwischenzeit stellte sie die weiteren Gäste vor, allesamt ehemalige oder aktuelle Intendanten des Stuttgarter Balletts, die den Werdegang des Weltstars mitgestaltet haben: Marcia Haydée (Intendantin des Stuttgarter Balletts 1976 – 1996), Reid Anderson (Intendant des Stuttgarter Balletts 1996 – 2018) und Tamas Detrich (Intendant des Stuttgarter Balletts seit 2018). Arnold führte dann für „die vielleicht eine Person im Publikum, die Friedemann Vogel noch nicht kennt“ (ein Satz der erneut für Aufheiterung beim Publikum sorgte) durch die wichtigsten Stationen in der beispielhaften Karriere des geehrten Jubilars: Ausbildung an der John Cranko Schule in Stuttgart und der Académie de Danse Classique Princess Grace in Monte Carlo bei Marika Besobrasova, der Lehrerin, die ihn am meisten prägte, zahlreiche Preise (Prix de Lausanne, Erik Bruhn Preis u. v. a.), Engagement beim Stuttgarter Ballett und Beförderung zum Ersten Solisten vier Jahre später, mehrfache Nennungen in den Kritikerumfragen von Fachzeitschriften wie tanz und Dance Europe (u. a. „Tänzer des Jahres“ und „Profilierter Tänzer“), die wichtigsten Rollen beim Stuttgarter Ballett sowie den meisten anderen berühmten Compagnien auf der ganzen Welt, um nur einiges davon zu erwähnen. Dazu wurde Vogel 2021 vom Internationalen Theater-Institut, gegründet von der UNESCO, zum Botschafter des internationalen Tages des Tanzes nominiert, eine Auszeichnung, die nur bedeutenden Persönlichkeiten der Tanzwelt zukommt.
Danach wurden die Gäste nach ihren ersten Begegnungen mit dem Tänzer befragt und ihren Eindrücken dabei. Haydée erzählte, dass Vogel damals erst 14 war und sie eine Choreographie für ihn kreieren musste. Alles was sie ihm zeigte, konnte er bereits beim ersten Mal schon perfekt, ihm fehlte aber etwas: die Ausstrahlung, er war noch keine Persönlichkeit. Als er dann von Monte Carlo und der Ausbildung bei Marika Besobrasova zurückkam, hatte er das bereits erlangt und für Haydée war er wie ein anderer Mensch.
Der inzwischen auf die Bühne zurück gekehrte Vogel hörte bereits zu als Haydée nach einigem Überlegen sagte: „Gott war in sehr guter Laune, als Friedemann auf die Welt kam“ und erklärte weiter, Gott dachte sich vermutlich „ich gebe Dir das und das, ich gebe Dir das auch noch, ach‘, ich gebe Dir einfach alles!“ Später sagte Haydée: „Du bist für mich der beste der Welt“ und führte auch aus wieso, was sich nicht mehr, wie vielleicht vermutet, auf seine tänzerischen Fähigkeiten bezieht sondern auf seine besondere Persönlichkeit: Vogel hätte nie eine ihrer Einladungen zu ihrer (nach eigenen Worten) „Compagnie der Dritten Welt“ in Santiago de Chile abgelehnt, egal welch‘ andere attraktivere Einladungen er noch gehabt hätte und auch wenn er dabei nur eine Vorstellung tanzen sollte. Vielleicht am Wichtigsten dabei: „Er hat meinen Tänzern gezeigt, was ein guter Tänzer ist.“ Täglich hätte er auch dort immer trainiert, egal was am Tag noch auf dem Plan stand. „Er ist nie müde“. Vogel erwiderte, dass Training für ihn wie Medizin sei und dass harte Arbeit keine sei, wenn man sie mit Leidenschaft macht. Man muss dies aber auch wollen und dabei die Vision auf das große Ganze nicht vergessen.
Reid Anderson ergänzte Haydées Begründung der Ausnahmepersönlichkeit und beschrieb ihn als „Star ohne Starsyndrom“. Anderson erinnerte sich an die Zeit, als er Vogel engagieren wollte und dass er Angst hatte, ob er gut genug ist, um Vogel einerseits weiterzubringen und andererseits, dass dieser keine Langeweile hat. Welche Rollen würde er ihm in welcher Reihenfolge anbieten müssen? Schließlich hat Anderson ihn nach eigenen Worten „geformt und Farbe gegeben“.
Tamas Detrich erinnerte sich, dass er noch ein Jahr zusammen mit Vogel in der Compagnie getanzt hätte. Anfangs hätte Vogel alle Klassiker- und Prinzenrollen bekommen, dann kam der Wendepunkt mit „Orlando“ von Marco Goecke und dessen radikal anderem Stil, der eine Herausforderung für Vogel dargestellte und an dessen Stück er drei Monate von morgens bis abends gearbeitet hätte. Danach war er laut Detrich ein anderer Tänzer. Später als Intendant wollte Detrich unbedingt „Mayerling“ von Kenneth MacMillan und die dramatische Rolle des Kronprinzen Rudolf nach Stuttgart bringen, dazu mit neuem Bühnenbild, wofür er mit Haydées Hilfe Jürgen Rose überzeugen konnte. Die Rolle des Rudolf gilt als schwierigste männliche Solistenrolle überhaupt und Vogel erklärt wieso: einerseits die vielen Partnerinnen mit schwierigen Hebefiguren, andererseits die sehr anspruchsvollen Soli des Rudolf und nicht zuletzt die dramatische Darstellung dessen Wahns. Detrich erzählte, dass bei den Anfangsproben Vogel aus dem Ballettsaal herausgerannt wäre, ihn dann angerufen und genervt „ich kann das nicht, ich mach‘ das nicht“ gesagt hätte. Vogel ergänzte, dass es das Besondere an der Atmosphäre sei wie am Zusammenhalt in seiner Heimatcompagnie, der er auch deshalb immer treu geblieben ist, dass man sowas auch austragen und dann gemeinsam weiter arbeiten kann. Das Ergebnis davon ist vermutlich DIE Paraderolle schlechthin für Friedemann Vogel geworden und hätte (Anmerkung der Redaktion) den Prix Benois de la Danse (der „Oscar“ für Tänzer) für Vogel verdient.
Ausschnitte davon sowie von einigen anderen der zahlreichen Rollen seiner Karriere wurden in einer sehr berührenden Filmcollage von Roman Novitzky und Dora Detrich gezeigt.
Vivien Arnold fragte den am Staatstheater Stuttgart 2015 Kammertänzer gewordenen Künstler nach seinen Gastrollen auf der ganzen Welt und deren Bedeutung für ihn. „Die erste Gastrolle war in „Romeo und Julia“, beim English National Ballet in der Royal Albert Hall, vor ca. 6.000 Zusehern.“ „Man braucht Nervenstärke,“ sagt Vogel dazu, der inzwischen überall auf der Welt gastiert und dies als große Bereicherung sieht, auch für das Stuttgarter Ballett, wohin er dann all‘ seine Erfahrungen auch mit- und einbringt. Für sich selbst meint er über die Gastrollen „je mehr ich mache, desto besser geht’s mir“. Bei dem stets nach höchster Perfektion suchenden Darsteller ist dies nicht verwunderlich.
Stimmig zum davor getanzten Stück trug Vogel danach auf nacktem Oberkörper einen dunkelgrauen, dreiteiligen eleganten Anzug, mit tief ausgeschnittener Gilet-Weste. Die Moderatorin durfte verraten, dass dieser von Dior stammt und leitete damit thematisch zur Welt der Mode ein, in deren namhafte Magazine wie „Vogue“, „Gentlemen Quarterly“ u. a. der Erste Solist ein bereits bekanntes und begehrtes Model geworden ist. Dabei schätze Arnold, dass der Tänzer dies nie ohne ein Interview mache. Vogel ergänzte, dass dies nur ein Mittel dazu sei, das Ballett zu bewerben und „die Leute ins Theater zu bringen.“
Der neueste Ausflug des Tänzers in eine andere Kunst war der in das schauspielerische Fach: eingeleitet durch die Videobotschaft des Regisseurs Joachim A. Lang, der an dem Abend nicht persönlich dabei konnte, jedoch unbedingt gratulieren wollte, konnten durch dessen freundliche Unterstützung noch vor der Premiere im September Auszüge aus dem Film „Cranko“ gezeigt werden. Vogel spielt darin die Rolle des Tänzers Heinz Claus. Texte seien für ihn schwerer zu merken als Schritte verriet Vogel. „Nie vermische ich die Schritte“ sagte er, auch wenn er vom gleichen Stück, z. B. „Romeo und Julia“, mehrere Choreographien, sogar auf gleicher Musik, gleichzeitig einstudieren musste. „Body memory“, das Körpergedächtnis, unterstütze ihn dabei. Mit Texten sei das anders, beim Film könnte man Szenen jedoch wiederholen, wofür man bei live Vorstellungen nur einen Versuch hat.
Zum Abschluss des Abends wurde dem Ausnahmekünstler noch der John Cranko Preis der Stuttgarter John-Cranko-Gesellschaft verliehen. Die Laudatio hielt dessen Vorsitzender Fred Binder, der humor- und liebevoll zugleich die Entwicklung des Weltstars aus der Perspektive des Publikums schilderte. Der Vergleich mit Pop- und Fußballstars wie Beyoncé oder Ronaldo, die von Fans auch nur mit dem Vornamen genannt werden, sorgte dabei für Gelächter, denn tatsächlich wird der Tänzer von seinen Fans liebevoll nur „Friedemann“ genannt.
Reid Anderson (Intendant des Stuttgarter Balletts 1996 – 2018), Marcia Haydée (Intendantin des Stuttgarter Balletts 1976 – 1996), Fred Binder (Vorsitzender der John Cranko Gesellschaft e.V.), Friedemann Vogel, Tamas Detrich (Intendant des Stuttgarter Balletts), Vivien Arnold (Direktorin Kommunikation und Dramaturgie des Stuttgarter Balletts). Foto: Stuttgarter Ballett
Sichtlich berührt bedankte sich Vogel beim Laudator und den Fans und erneut gab es lange Standing Ovations.
Der Weltstar Friedemann Vogel ist nicht nur bodenständig und bescheiden geblieben, er berührt vor allem durch die authentische und tiefe Dankbarkeit, die man ihm immer wieder ansieht, gegenüber der Wertschätzung, die ihm das Publikum überall entgegenbringt. Er alleine weiß, was es täglich bedeutet, sich als Tänzer auf seinem Niveau zu halten und dass nichts selbstverständlich ist, weder seine Form noch der Erfolg. Das ist es vermutlich, was seine Anziehungskraft ausmacht: einerseits die Reife und dadurch tiefe Menschlichkeit, die das Publikum spürt, gepaart mit der kindlich wirkenden Freude, die ihm beim Applaus nach jeder Vorstellung ins lächelnde Gesicht geschrieben steht. Mögen noch viele solche Vorstellungen bevorstehen!
Danke, Friedemann Vogel, für 25 beispiellose Jahre beim Stuttgarter Ballett!
Dana Marta