Stuttgarter Ballett
„DIE KAMELIENDAME“ 24.2.2023 – mit bemerkenswert reifem Titelrollen-Debut
Erste Begegnung: Rocio Aleman (Marguerite) und Marti Fernandez Paixa (Armand) im 1.Akt. Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter ballett
Es war eines der Staunen erregenden solistischen Premieren-Ereignisse, wie sie beim Stuttgarter Ballett immer wieder geschehen: Rocio Aleman fügte ihrem beständig und entwicklungsgemäß erfolgten Repertoire-Zuwachs die mit markanteste Ballerinen-Rolle des neoklassischen Balletts hinzu. John Neumeiers Choreographie ist ein über die zahlreichen Besetzungswechsel hinweg faszinierendes Beispiel erzählerischer Ballett-Kunst geblieben. Die Mexikanerin ist nicht nur eine frappierend schöne, von einem leichten geheimnisvollen Schleier umwehte, sondern in ihrem zunehmenden Leiden beseelte Marguerite Gautier. Mit spürbarer Lebensfreude, zunächst noch etwas verunsichert gegenüber den Avancen von Armand Duval, dann regelrecht aufblühend durch dessen einfühlsame Zuneigung, zeichnet sie eine Frau, die umso schwerer mit sich ringt, das Opfer für einen einwandfreien moralischen Lebenswandel von Armands Familie aufzubringen. In der Begegnung mit Armands Vater (von Matteo Crockard-Villa mit sehr sparsamen Mitteln, aber doch entscheidender Bestimmtheit auf den Punkt gebracht) entfaltet Aleman eine Tiefe des Ausdrucks, wie er von einer Rollen-Debutantin, die sich oft noch auf eine ordnungsgemäße choreographische Umsetzung konzentriert, nicht unbedingt zu erwarten ist. Phantastisch ist ihre Maske einer sichtbar gezeichneten und gealterten Frau, wenn sie im in der den 3.Akt eröffnenden Champs-Elysées Szene, begleitet von ihrem früheren Verehrer Graf N. (Alessandro Giaquinto mit berührendem Ernst, bis dahin aber etwas überbetonter Komödiantik) wieder auf Armand und die von ihm verführte Prostituierte Olympia ( die entzückend geschmeidige Aurora De Mori) trifft – ein auch an diesem Abend ungemein bewegendes Zusammentreffen, wenn sich die vier für einige Zeit gegenseitig mit den unterschiedlichsten mimischen Nuancen fixieren.
Zu ganz großer Form läuft Aleman in der darauf folgenden letzten Wiederbegegnung mit Armand auf, wenn sie sich geradezu von dessen ausbrechend stürmischer Rückbesinnung auf ihr Glück mitreißen lässt und in Neumeiers hier immens fordernder Expressivität gelöst aufgeht, ehe sie in der kurzen Todesszene (auch dank Maske) nur noch ein Schatten ihrer selbst, wie eine Hülle, aus der die Seele bereits entwichen ist, zu sein scheint.
Starkes Zusammenwirken: Rocio Aleman (Marguerite) und Matteo Crockard-Villa (Monsieur Duval) im 2.Akt. Foto: Roman Novitzky
Mit zu verdanken hat Aleman diese Debut-Sicherheit ihrem bereits rollen-erfahrenen und mit idealer Hebetechnik ausgestatteten Partner Marti Fernandez Paixa. Der fesche und charismatische Katalane kombiniert sein (Ver)-Führungs-Geschick auch jetzt wieder mit einer intuitiv entfalteten gestalterischen Gabe, unter die Oberfläche eines lediglich noblen Liebhabers blicken zu lassen.
Zwei weitere Damen-Debuts erhöhten noch die gewisse Premieren-Stimmung. Veronika Verterich ist eine Manon, deren Schicksal immer wieder durch ihre unprätentiös leicht kokette Note sichtbar wird, und in Neumeiers bedeutungsvoll ausgeprägtes Rollenbild auch dank guter technischer Basis schon sehr weit hineingefunden hat. Ihr Des Grieux wird von Clemens Fröhlich mit inzwischen deutlich gewachsener Solisten-Kontur und klar formulierter Balance erfüllt. Von der Olympia zur Prudence gewechselt ist Mizuki Amemiya und auch in diesem unbeschwert heiteren Charakter eine Spur gehaltener als gewohnt gut aufgehoben. Ihr Gaston ist der lockere und lustvolle sowie geschickt partnernde Daniele Silingardi.
Verbleiben noch Magdalene Dziegielewska als schlichte, in der Landpartie auch Sinn für Komik beweisende Amme Annina und Fabio Adorisio als klar umrissen strenger, Marguerite mit Geld und Juwelen aushaltender Herzog.
Durchweg gute Qualität in den füllenden Corps-de ballet-Beigaben sowie seitens der mit Chopin pur erzielten musikalischen Erfüllung durch die bereits bei der WA-Premiere erwähnten Pianisten und das Staatsorchester Stuttgart unter Wolfgang Heinz.
Rauschender Beifall mit Sonder-Ovationen für das harmonische Hauptpaar!
Udo Klebes