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STUTTGART/ Ballett: „DIE FANTASTISCHEN FÜNF“

Tanzleidenschaft in geballter Moderne

25.03.2018 | Ballett/Performance

 

Stuttgarter Ballett: „DIE FANTASTISCHEN FÜNF“ – 23.3.2018 – Tanzleidenschaft in geballter Moderne

 Sein Auge und Gespür für Talent – nicht nur bei Tänzern sondern auch bei Choreographen – sowie sein Mut, mit diesen Risiken einzugehen, sind mittlerweile fast so bekannt wie sein Ruf als Intendant und Bewahrer von John Crankos Erbe beim Stuttgarter Ballett: Reid Anderson versteht es seit jeher, auch junge Choreographen so zu fördern und zu fordern, dass sie über sich hinauswachsen und gar Fantastisches schaffen. In seiner letzten Spielzeit als Intendant wollte Anderson das Publikum und wohl auch sich selbst nochmals reichlich beschenken, mit gleich 5 Uraufführungen einiger seiner Schützlinge.  

Den Auftakt gab Roman Novitzky mit „Under the Surface“, für das er u. a. auch eine Auftragskomposition von Marc Strobel verwendete. Das Stück erzählt von „Menschen. Dialoge. Beziehungen“ über und unter der „glatt-höflichen Oberfläche“ auf die Novitzky eigene, wunderbar humorvolle, unterhaltsame und fesselnde Art und Weise, die dem Publikum von „Junge Choreographen“-Abende spätestens seit Erfolgsstücken wie „Are you as big as me“ bekannt ist. Um einen Tisch herum machen 4 Tänzerinnen und 5 Tänzer Bekanntschaft, die ein Wirrwarr an Beziehungsgeflechte entfacht.


Fantastisches Ensemble in „Under the Surface”. Foto: Stuttgarter Ballett

Liebe in ihren unterschiedlichen Facetten – gleichgeschlechtliche, leidenschaftliche oder enttäuschte – findet Ausdruck in wellenartigen Bewegungen, verbreitet wie durch eine von einem einzelnen ausgelöste Lawine oder in Zeitlupen wie im Film „The Matrix“. Alexander McGowan tut sich als großer, flirtender und von sich überzeugter Charmeur hervor, der spielerisch die gelangweilte Veronika Verterich erobert, womit seine Schwierigkeiten aber erst anfangen. Am Ende bleibt einwie mit dem Schicksal hadernder Matthew Crockard-Villa alleine auf der Bühne zurück und die Geschichten spielen sich des weiteren hinter den Kulissen ab.

Ganz anders wirkt das 2. Stück „Or Noir“ von Fabio Adorisio. Die schwarzen Trikots mit hellen Strichen wie Risse sollen „Kintsugi“, die jahrhundertealte japanische Reparaturkunst für zerbrochene Porzellane oder Keramiken suggerieren. Stimmig dazu auch das warme, feuerähnliche Licht, in dem hinten auf der Bühne das Streichquintett die Auftragskomposition von Nicky Sohn spielt. Rocio Aleman und David Moore scheinen im pas de deux von Rissen in und zwischen den Menschen erzählen zu wollen, während Anna Osadcenko und Jason Reilly diese wieder zu kitten versuchen. Tolle Zutaten und Aufmachung für sein Stück, dem jedoch etwas die Substanz fehlt. Zu sehr undzu schnell verlieren sich die Bewegungen auf der dunklen Bühne, so dass am Ende wenig sich Prägendes davon in Erinnerung bleibt.      

In „Take Your Pleasure Seriously“ ließ sich Katarzyna Kozielska von ihrer eigenen Entwicklung als Tänzerin beim Stuttgarter Ballett leiten. Als junge, hart arbeitende Tänzerin wurde sie von den Ersten Solistinnen inspiriert, die sie unendlich bewunderte. In schwarze Trikots mit Mustern wie rote Flammen auf den Beinen scheinen die Tänzer durch etwas gebrochene Schritte und Drehungen von den Anfängen der jungen Tänzerin zu erzählen. Allmählich entwickeln sich fließende, runde Bewegungen, die mit dem teils schlangenartigen Part von Alicia Amatriain (Paraderolle) in einer Orgie des Tanzes gipfeln: durch eine rote Lichtwolke von den Tänzern auf den Armen gehoben, posiert Amatriain da oben als lässige Diva, Symbol für den Inbegriff der in jeder Hinsicht verführerischen Primaballerina.

Der 2.Teil des Stückes erzählt wohl die Geschichte der gereiften Tänzerin, die zu sich selbst und die große Liebe gefunden hat. Ein intensiver pas de deux der jungen Tänzer Diana Ionescu und Daniele Silingardi, in dem vieles eng ineinander umschlungen ist, gehalten und getragen wird, berührt zutiefst auf Musik von u. a. Johann Sebastian Bach, sehr stimmig begleitet auf der Bühne vom Pianisten Paul Lewis.

 

  
Berührend und intensiv in „Take your pleasure seriously“: Diana Ionescu und Daniele Silingardi.
Foto: Stuttgarter Ballett

Gegensätzlich in fast jeder Hinsicht ist das Stück „Skinny“ von Louis Stiens. Den Anfang als „Aufnahme aus den Untiefen des Ozeans“, wie Stiens selbst ein Bild aus seinem Stück nennt, mit Wesen, die in hautfarbene Trikots und mit langen nassen Haaren wie Meerjungfrauen wirken, folgen mehrere weitere Szenen auf laute Elektromusik von Halycon Veil. Stiens sucht gerne Ausdruck für die Bilder, die experimentelle Elektromusik in seinem Inneren wecken, diesmal bot jedoch die Bewegungssprache nichts Neues und wirkte somit auch zu lang. „Eine Horde wilder Cheerleader“ wie hüpfende Puppen oder wild mechanisch wirkende Tänzer lassen das Publikum ob der Botschaft etwas ratlos zurück, trotz großem Aufgebot von 13 Tänzern und spektakulären pas de deuxs von Elisa Badenes mit Shaked Heller oder David Moore.

Die Botschaft überlässt Marco Goecke bei „Almost Blue“ wohl dem Publikum, diese kommt jedoch in der für ihn charakteristischen Bewegungssprache,die inzwischen europaweit und nicht nur, zur angesagtesten modernen Tanzkunst zählt. Fast stets angespannte Körper ermöglichen elektrisierende, oft eckige Arme, hier in langen schwarzen Handschuhen verdeckt, und enorm aussdrucksstarke, von Tangofächer über flatternde Schmetterlinge bis hin zu Krallen geformte Hände. Dynamische Sprünge wechseln teils mit Bewegungen in Zeitlupe ab und Tänzer geben Stimmungen lauten Ausdruck, von Einzeltönen bis zu ganzen Sätzen wie „really freezing cold“. Ganz in schwarz gekleidet, lassen Angelina Zuccarini und Ludovico Pace die in Kontrast stehenden hellen Hände in allen möglichen Formen sprechen, während Elisa Badenes hier nochmals ihre Vielseitigkeit beweisen kann.         


Hände und Arme die man fast sprechen hört. Elisa Badenes und
Matteo-Crockard Villa in „Almost Blue“      Foto: Stuttgarter Ballett

Am Anfang des Stückes wird jedoch Alessandro Giaquinto, der sich Goeckes Stil hervorragend angeeignet hat, mit lauten Schüssen auf ihn verstört, vielleicht als Symbol dessen, wie Goecke sein abruptes Ende beim Stuttgarter Ballett empfinden mag. „Heute zum ersten Mal Reid Anderson getroffen, sehr nett“,…„Ich solle hart arbeiten. Morgen Probe, bin aufgeregt. Hoffe, ich kann mich konzentrieren“ – Tagebucheinträge einer Nacht aus 2001 schildern die Anfänge Goeckes mit dem Intendanten und der Compagnie, mit denen er als Hauschoreograph den sicheren Halt hatte, sodass er seinen anfangs sehr kritisierten Stil erfolgreich weiterzuentwickeln vermochte. Sein Abschiedsstück mag vielleicht auch eine kleine Reise zurück zum Anfang seiner Geschichte in Stuttgart darstellen.

Für das Publikum, das ihn mit einem Blumenregen und langem Applaus bedankte, wird er mit Sicherheit unvergessen bleiben. Es bleibt nur zu hoffen, dass der sichtlich gerührte Goecke dies ebenfalls nicht vergisst und seine Choreographien hier weiterhin zu sehen sein werden.           

Dana Marta

 

 

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