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STUTTGART/Ballett: CREATIONS X-XII – Licht und Schatten

28.05.2023 | Ballett/Performance

Stuttgart: 27.05.2023: „Creations X-XII“ Licht und Schatten

2019 rief Ballettintendant Tamas Detrich die Serie „Creations“ ins Leben, um vielversprechenden, meist jungen ChoreographInnen, zu erlauben, zunächst im intimeren Rahmen des Schauspielhauses Stuttgart Stücke zu kreieren und dabei die eigene Handschrift zu entwickeln oder weiter auszufeilen. Die Serie, die immer jeweils drei neue Uraufführungen hervorbringt, geht nun in die vierte Folge.

Den Auftakt machte „In Esisto“ der Halbsolistin Vittoria Girelli, die auch in der vorigen Creations-Folge ein Stück beigesteuert hatte. Die gleichnamige Auftragskomposition stammt von Davidson Jaconello, der auch die restlichen Kompositionen für das Stück arrangierte. Girelli kreierte auch die die schlichten, jedoch effektvollen, weißen Kostüme für ihr Stück und ließ sich nach eigenen Worten von Dantes Visionen bis zu Dan Flavins Stimmungen, von Carlos Rovellis Theorie der weißen Löcher bis zu James Turrells leuchtenden Rissen im Raum inspirieren. Sie wollte Tänzer wie Publikum „eine Serie von Erkundungen zwischen Schlafen und Wachen, Harmonie und Disharmonie, Leben und Traum, Zusammengehörigkeit und Entfremdung…“ bieten. Schließlicht existiert alles zusammen, oder auch nicht: „In Esisto“ bedeutet „Existieren in“ und kann als Wortspiel „Inesisto“ auch das Gegenteil „Nicht Existieren“, bedeuten. Das Bühnenbild bestehend aus zwei seitlichen Mauern und hinten einem Rechteck, in dem sich Farben abwechseln sowie das warme Licht (beides von A. J. Weissbard), sorgten maßgeblich für die entsprechende Stimmung. Die Choreographie wirkt wie aus einem Guss, mit vielen wellenartigen und fließenden Bewegungen sowie bogenförmigen Armen, als würden die Tänzer Wolken darauf halten. Kurz brechen Mackenzie Brown mit Martino Semenzato sowie Rocio Aleman mit Timoor Afshar diesen Fluss mit kantigeren, präzisen Bewegungen, danach verschmelzen sie bald wieder in Gleichklang mit dem Ensemble, stimmig ergänzt durch Lassi Hirvonen, Elisa Ghisalberti, Christian Pforr, Edoardo Sartori, Tristan Simpson, Martina Marin, Irene Yang, María Andrés Betoret sowie den Eleven Ruth Schultz und Dorian Plasse. Während die Bässe der Musik teils für Kinostimmung sorgen, besteht die Stärke dieses Stückes vermutlich in der kompakten Gruppe, die manchmal wirkt, als würde sie auch im Gleichklang atmen. „Ich wollte schon immer ein Licht machen, das so aussieht wie das Licht, das im Traum erscheint“ wird James Turrell im Programm zitiert. Dem Stück gelingt diese Harmonie, dessen Gefühl man vielleicht nur im Traum erlebt, doch geschieht dies eher durch das Zusammenspiel aller Elemente und weniger durch die Choreographie, die nichts Neues anbietet und von vielen sich wiederholenden Bewegungen lebt.   

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 „In Esisto“ von Vittoria Girelli: Martino Semenzato, Mackenzie Brown, Lassi Hirvonen. Foto: Stuttgarter Ballett

Weniger leuchtend oder erhebend, um nicht zu sagen düster, ist hingegen das zweite Stück des Abends, „Ascaresa“ (dt.: „Nostalgie“) in dem Alessandro Giaquinto auch den Verlust seines Großvaters verarbeitet.

Entsprechend dunkel sind auch das Bühnenbild von Chiara Bugatti, bestehend aus Zementbalken und einem großen Haufen Sand, (vermutlich die Vergänglichkeit der Asche symbolisierend), sowie das Licht von Rüdiger Benz. Lediglich ein rotes Kostüm sorgt für etwas Farbe, während mit den anderen, in schwarz oder Hautfarbe, die Grundstimmung betont wird (Austattung: Mylla Ek). Auch Giaquinto erklärt mit eigenen Worten, welche Nostalgie ihn beim Stück treibt: „Die hohlen Überreste der Erinnerung verblassen langsam, aber was uns einmal berührt hat, bleibt für immer. Es ist die ständige Präsenz und Abwesenheit, die Erinnerung daran, dass etwas von grundlegender Bedeutung einmal da gewesen ist.“ Der Verlust, der gleichzeitig aber auch  Befreiung sein kann. Diese Zerrissenheit zwischen Nostalgie und Befreiung scheint die Essenz von Giaquintos Stück zu sein, die sich auch in der Körpersprache widerspiegelt: viele kantige Bewegungen, schnell überkreuzte Arme oder Rotationen des Kopfes wechseln ab mit Kriechen am Boden. Timoor Afshar gibt am Anfang alleine den Auftakt im schwarzen, ärmellosen Lackkostüm, Anouk van der Weijde lässt sich später rückwärts auf seine Armen fallen, Ruth Schultz hadert mit dem Schicksal ‘mal sprunghaft, dann wieder sanfter, während die Gruppe, ergänzt durch Giulia Frosi, Joana Senra, Aurora De Mori, Daniele Silingardi sowie Riccardo Ferlito mit teils rhythmischen Schritten an archaischen Tanz erinnert. Für das musikalische Arrangement sorgt Claudio Borgiani, auf dessen rhythmischen Klängen Martí Fernández Paixà in einem intensiven Solo vor dem Sandhaufen am meisten beeindruckt. Nach und nach fließt der Sand durch ein Gitter nach unten, vergänglich wie Asche.

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 „Ascaresa“ von Alessandro Giaquinto: Martí Fernández Paixà und die Nostalgie der Vergänglichkeit.  Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Eine Serie fast nicht mehr endenwollender Umarmungen hätte ein schönes und versöhnliches Ende des Stückes sein können, leider wird es danach unnötig in die Länge gezogen. Giaquinto fehlt noch ein breiteres, originelleres Bewegungsspektrum sowie das richtige Gespür für die Konzentration und Länge des Stückes.

Den Abschluss des Abends machte der wohl erfahrenste der drei Chorgraphen, der Solist Fabio Adorisio, der auch schon für die erste „Creations“-Folge ein Stück kreiert hatte. „Lost Room“ (dt.: verlorener Raum), musikalisch begleitet durch das Arrangement von Marc Strobel, der auch die Auftragskomposition „Aperture“ dafür kreierte, handelt ebenso wie „Ascaresa“ von einen Verlust, in diesen Fall der eines Ortes, „an dem die Zeit keine bestimmte Ordnung hat…ein Ort des Vergleichens, des Teilens, des Loslassens. Manchmal kann man etwas Vergangenes mit der eigenen Vorstellungskraft festhalten.“ Am Anfang bewegen sich die Tänzer wie in Zeitlupe, bis David Moore dies mit schnittigen Bewegungen bricht. Später wirft er sich auf den Bauch am Boden und beugt die Arme und Beine nach oben, wieder wie in Zeitlupe. Im Pas de deux mit Agnes Su wird es erneut rhythmischer, mit schnellen Beckenbewegungen nach links und rechts, entgegengesetzt zu den Armen, offene, nasse Haare fliegen in allen Richtungen, Adhonay Soares da Silva und Mizuki Amemiya beugen sich nach hinten vor einer Betonmauer (Bühne und Kostüme: Thomas Mika, Licht: Kees Tjebbes), als würden sie nach oben noch mehr Raum suchen wollen. Die Steigerung ist ein Versuch, auf die Mauer nach oben zu klettern – ob dort der verlorene Raum zu finden ist? Eva Holland-Nell, Matteo Miccini sowie Christopher Kunzelmann – ebenso wie ihre Kollegen mit guten Interpretationen – können den fehlenden Ausdruck und die Überlänge des Stückes leider nicht wieder wettmachen. 

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 „Lost Room“ von Alessandro Giaquinto: Adhonay Soares da Silva, Eva Holland-Nell, Ensemble – Licht und Schatten im scheinbar verlorenen Raum. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Das Publikum unterstützte die jungen Choreographen ähnlich wie bei den Noverre-Abenden mit anhaltendem Applaus, die Frage bleibt dennoch, ob sich solche Stücke für Ballettabende im Repertoire eignen oder nicht besser im Rahmen der Vorstellungen „Noverre: Junge Choreographen“ aufgehoben wären.

Weitere fünf Vorstellungen folgen noch bis Ende der Spielzeit.

Dana Marta

 

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