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STUTTGART/ Ballett: „CREATIONS X – XII“ – fest in italienischer Hand

09.06.2023 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett

„CREATIONS X – XII“ 6.6. 2023 (Uraufführung 27.5.) – fest in italienischer Hand

Italien ist in der Stuttgarter Compagnie seit vielen Jahren stark vertreten. Dass einige dieser Landsmänner/frauen nicht nur als Tänzer, sondern auch als Choreographen von sich reden machen, ist bemerkenswert. Gleich drei von ihnen, die ihre ersten Versuche auch im Rahmen der Noverre-Abende Junger Choreographen präsentieren konnten, hat Tamas Detrich nun mit Aufträgen für eine Premiere mit anschließender Repertoire-Bespielung bedacht. Damit erfolgte jetzt auch die vierte Ausgabe der unter dem Titel „(New) Creations“ geführten Reihe an Uraufführungen, die die ohnehin enorme Anzahl neuer Stücke im Stuttgarter Ballett beständig erweitert.

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Timoor Afshar + Rocio Aleman in „In esisto“. Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Inzwischen ist eine Generation heran gewachsen, die sich angesichts der in den letzten Jahren kulminierten Katastrophen und Krisen weder mit bloßer Unterhaltung noch mit belanglosen Avantgarde-Studien um ihrer selbst Willen begnügt sondern aktuelle Themen ernster Natur im Tanz verarbeitet. So beschäftigt sich Halbsolistin Vittoria Girelli in ihrem wortspielreich betitelten Stück „IN ESISTO“ (=(nicht)existieren) mit Übergangszuständen zwischen Gegensätzlichkeiten wie z.B. Licht und Dämmerung oder Leben und Traum. Dafür hat ihr A.J.Weissbard einen laborartigen cleanen und von ihm selbst in klinischem Weiß oder in Soft-Farbtönen ausgeleuchteten Raum mit einer rechteckigen Öffnung hinten in der Mitte geschaffen. Die Tänzer wirken in ihren weiten hellen Stoffhosen mit streng gegeelten Haaren und bei den Männern seltsamen Buchstaben-Tattoos an den Hälsen wie Kunstobjekte einer auf Halbspitze agierenden Versuchsanordnung, in der unterschiedliche Einstellungen körperlicher Verbiegungen aneinander gereiht werden. Im ersten Teil sind es zwei sehr präsente Duos (Martino Semenzato + Mackenzie Brown, Timoor Afshar + Rocio Aleman, ergänzt durch Lassi Hirvonen). Später ergänzen sie neun weitere TänzerInnen zu einer Gruppe mit immer wiederkehrenden, teils vor dem Gesicht vollführten identischen Handzeichen, die an Gebete erinnern.

Musikalisch betrachtet läuft die sich aus einem Flüstern entwickelnde, dann hauptsächlich aus Kompositionen und Arrangements von Davidson Jaconello bestehende Collage eher parallel denn auf sie einwirkenden Choreographie ab. Diese gewinnt zwar beständig an Stringenz, bleibt aber doch im Rahmen der als Ganzes dominierenden kühlen Ästhetik der Bühneneinrichtung eher ein wenig berührendes Rad im Getriebe.

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Das trauernde Ensemble in „Ascaresa“. Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Ein völlig anderes Bild ergibt sich in „ASCARESA“ (=Nostalgie) des choreographisch bereits recht erfahrenen Halbsolisten Alessandro Giaquinto. Sein Schauplatz ist ein unterirdischer, nur durch einen schräg von rechts oben einfallenden Lichtstrahl erhellter Raum mit hohen Betonstützen, einem (Grab-)stein vorne und einem, wohl inspiriert durch die Trauer um seinen Großvater als Grabhügel zu ortenden, nach und nach vom Boden verschluckten Erdhaufen (Bühne: Chiara Bugatti). Auf diesen bewegen sich die zunächst einzeln oder in Duos erscheinenden neun Tänzer in recht schickem schwarzem Outfit (Kostüme: Mylla Ek) immer mehr hin, werfen Erde dazu, deren Spuren als unauslöschliche Verbindung zum Toten auf ihren Körpern zurückbleiben, und bringen in verschiedenen Varianten von Tanztheater knieend und betend ihren Schmerz um den Verlust eines geliebten Menschen zum Ausdruck. Dabei wird auch geflüstert und mal in die Stille hinein agiert. Die ausgewählte Musik von Tomaso Albinoni und Bearbeitungen von Claudio Borgianni ist mehr Stimmungsträger als direkter Partner oder Ausdrucksträger. Vielleicht entstehen durch dieses Nebeneinanderher-Wirken hin und wieder Längen. Ansonsten können die Tänzer, voran der wie immer berührende Zustände herstellen könnende Marti Fernandez Paixa und die expressiv hervorstechende Elevin Ruth Schultz in Soli, ihren Gefühlen der Trauer spürbare Energie geben. Weiters dabei sind: Anouk van der Weijde, Giulia Frosi, Joana Senra, Aurora De Mori, Timoor Afshar, Daniele Silingardi und Riccardo Ferlito.

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Matteo Miccini + Agnes Su in „Lost Room“.  Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Solist Fabio Adorisio zeigt dann zum Schluss welch starken Dialog Musik und Tanz eingehen und Bewegungen unmittelbar inspiriert aus ihr hervorgehen können anstatt nebeneinander zu existieren. „LOST ROOM“ (= verlorener Raum) ist laut den Worten des Choreographen ein Ort, an dem die Zeit keine bestimmte Ordnung hat und alles wie im Film passiert. Es geht um das Speichern verschiedenster Ereignisse, die sowohl weggeschoben als auch durch einen aktuellen Bezug wieder hervorgeholt werden können. Diesen Gehirnraum  markieren vier dunkle ausweglose Wände, in denen sich sieben TänzerInnen in schwarz glänzenden weiten Hosen und ärmellosen Oberteilen (Bühne + Kostüme: Thomas Mika) oft zu Gruppen zusammenfinden, aus denen dann Einzelne wie der markant präzise Matteo Miccini ausbrechen und die Gruppe wiederum anleiten. Die Bewegungen werden dabei oft von einem zum nächsten weitergereicht oder bodennah balancierend nach oben gerichtet. Duos lösen sich und gehen in einem Quartett auf. Zuletzt wird aber das ganze Ensemble, zu dem noch Agnes Su, Mizuki Amemiya, Eva Holland-Nell, David Moore, Adhonay Soares Da Silva und Christopher Kunzelmann gehören, von der ausgewählten Musik, Marc Strobels Bearbeitungen von rhythmischen und kraftvoll melodischen Cello-Sonaten von Rachmaninov und Grieg, zu einem mitreißenden Austausch angetrieben.

Zusammengefasst betrachtet ist bei Fabio Adorisio durch ein auch innerhalb der Gruppe individuelles und abwechslungsreiches Schrittgefüge die größte Entwicklung erkennbar. Verdient rief sein Stück den größten Enthusiasmus hervor, doch auch die beiden anderen Kreationen wurden mit ausgiebigem Applaus überschüttet.

Udo Klebes

 

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