Stuttgarter Ballett
„CREATIONS VII – IX“ 2.6. (Premiere 29.5.) – Gespiegelte Welten
Das in der schlicht „Kreationen“ betitelten Serie jetzt vorgestellte neue Programm mit Schöpfungen hauseigener Choreographen dürfte ein Resultat der langen Lockdown-Phasen sein, während derer die Künstler Zeit hatten über ihr Dasein nachzudenken. Die Präsentationen sind sehr unterschiedlicher Natur, in allen drei Fällen vom Ansatz her ambitiös, im Ergebnis jedoch von weit auseinander liegender Effizienz und tänzerischem Anspruch.
Ensemble in „Self deceipt“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Vittoria Girellis „SELF DECEIPT“ (Selbsttäuschung) bezieht sich im Titel auf eine Fotoserie von Francesca Woodman aus Rom im Jahr 1978, in der sie diesbezügliche Möglichkeiten mit Hilfe von Spiegel und tarnender Umgebung erforscht hat. In Kombination mit der zusätzlichen Inspiration durch das wortgewaltig und zu Bildern anregende Inferno in Dantes „Göttlicher Komödie“ hat die künftige Halbsolistin ein beinahe skulptural geprägtes Stück für 2 Frauen und 5 Männer geschaffen. Im Schwarz und Dunkelviolett gehaltenen, selbst entworfenen Kostümen mit dickbeperlten Halsbändern vor meist dunklem Hintergrund in Lichtkegeln und teils tiefem Gegenlicht ist ein einerseits schick kühl-modernes, andererseits aber auch mit Formungen antiker Kunst spielendes Werk entstanden. Davidson Jaconellos Soundmix aus Alltagsgeräuschen, strenger geistlicher Chormusik und Streichquartetten sorgt für eine passend, leicht unheimliche Stimmung. Girelli lässt die wie fokussiert in ihr Inneres blickenden TänzerInnen ( Rocio Aleman, Daiana Ruiz, Timoor Afshar, Matteo Miccini, Alessandro Giaquinto, Martino Semenzato und Flemming Puthenpurayil ) in Zweier- und Dreiergruppen agieren und dazwischen immer wieder alle kunstvoll zu einer Gruppe verschlungener Körper langsam erstarren.
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Miriam Kacerova und Marti Fernandez Paixa in „Reflection/s“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Roman Novitzky, der sich mit Ende der Spielzeit als Tänzer von der Bühne verabschiedet und künftig als Artist in Residence in seinen beiden anderen Metiers Choreographie und Fotografie dem Stuttgarter Ballett erhalten bleiben wird, schöpft die Inspiration bei seiner nunmehr achten Kreation „REFLECTION/S“ aus einem kritischen Rückblick auf seine nunmehr zwanzig Tänzerjahre. Die Ballettstange wird zum Ausgangspunkt, dort wo Freud und Leid, Ängste und Hoffnungen zur täglichen Herausforderung gehören. Als Novitzkys Alter Ego bringt der mit einer starken Körperpräsenz gesegnete Henrik Erikson dieses spezielle Ritual greifbar zum Ausdruck. Weitere TänzerInnen gesellen sich hinzu und verdeutlichen durch eine geometrisch angelegte Spiegelkonstruktion die Situation. Später kippt diese weg und gibt den Raum unter sich im silber-grün bis zu orange schillerndem Licht spiegelnden, herunter hängenden Elementen frei für ein Konglomerat, das alle seine bisherigen schöpferischen Erfahrungen zu einer dynamisch reichhaltig gegliederten Choreographie mit fließenden Wechseln zwischen Pas de deux und Gruppen verdichtet. In einem kurzen Pas de deux mit geschickt eingebauten Hebefiguren, von Miriam Kacerova und Marti Fernandez Paixa mit Verve exekutiert, werden Erinnerungen an Novitzkys Erstlingsarbeit wach. Erfreulich, dass es noch Choreographen gibt, die diese wahrlich abhebende und erhebende Form nicht scheuen! Auch Agnes Su, Mackenzie Brown und die beiden aufstrebenden Gruppentänzer Christopher Kunzelmann und Christian Pforr sind konturvoll ins Licht gesetzt. Eine treibende Kraft ist auch die von Philipp Kannicht elektronisch gemixte Verbindung eines Chopin Walzers (als Reminiszenz an den Ballettsaal) mit der vom Jazz beeinflussten Bearbeitung des Saxophonisten Magnus Mehl.
Novitzky wird seinen Weg als ein Tanzschöpfer machen, der zumindest bis jetzt für keinen speziellen Stil steht, aber viele Einflüsse und eigene Ideen kreativ miteinander verknüpft.
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Angelina Zuccarini, Louis Stiens und Shaked Heller in „Ifima“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Diese „Reflection/s“ müssten als Höhepunkt den Abschluss des Programms bilden, doch bühnentechnisch bedingt rückt „IFIMA“ an diese Stelle. Die erste Gemeinschaftsarbeit der bisher solo am Werk gewesenen Tänzer Louis Stiens und Shaked Heller ist eine Assoziation des Themas Wasser als Element des Fortspülens von Gegenwart, der beständigen Veränderung und der bleibenden Erinnerung. Die szenische Initiation lieferte ihnen das Erlebnis einer versunkenen Stadt in Griechenland und die aktuellen Flut-Katastrophen. Der wie ein Phantasieland klingende Titel entstand aus der Abwandlung eines zur Musikauswahl gehört habenden Songs „If I may“. Soweit so gut und viel versprechend. Doch die choreographische Umsetzung kommt in ständigen Wiederholungen von hangelnden, wälzenden, kriechenden Körpern nur wenig von der Stelle. Vor allem im ersten Teil zu bloßen Geräuschen schmelzenden Eises, sich verdrehender Körper entbehrt das von Stiens und Heller selbst präsentierte Stück eines nachvollziehbaren Sinns, wird der wasserfreie Abschnitt des Stückes buchstäblich zur sich dehnenden trockenen, am besten mit Performance beschriebenen Kreation. Der zweite Teil in einem mit Wasser gefüllten Bassin und daraus herausragenden Mauerresten bekommt durch das durch die Bewegungen im Licht aufspritzende Wasser eine optisch anregendere Komponente. Choreographisch tut sich aber auch letztlich da nicht mehr, der melancholische und nostalgische Charakter gesammelter Erinnerungen gründet mehr auf zwei Sätzen aus Mozart-Klavierkonzerten, während das körperliche Geschehen im Inneren der Tänzer verschlossen bleibt. Da kann auch eine so beredsame Power-Frau wie die Solistin Angelina Zuccarini, die sich die beiden mit ins Boot geholt haben, nichts Wesentlicheres zur Gesamtwirkung beitragen.
Hoffen wir, dass die beiden künftig freischaffenden Choreographen, wobei vor allem Heller bislang mit skurril eigenständigen Arbeiten gepunktet hat, ihren Weg zu doch mitteilsameren und tänzerisch ergiebigeren Schöpfungen finden.
Viele Vorhänge folgten bei dieser zweiten Vorstellung nach allen drei Kreationen, doch der Jubel brandete bei Girelli und vor allem Novitzky dann doch deutlich kräftiger auf.
Udo Klebes