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STUTTGART/ Ballett: BEETOVEN-BALLETTE als Live-Stream – Aufgeschoben aber nicht aufgehoben!

03.04.2021 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett

„BEETHOVEN-BALLETTE“ 1.4.2021 Live stream – Aufgeschoben aber nicht aufgehoben!

Dieses Motto gilt hoffentlich für viele geplante Projekte, die aufgrund der Corona-Maßnahmen bislang nicht umgesetzt werden konnten. Im Falle dieses nun live im Schauspielhaus der Württembergischen Staatstheater aufgenommenen Programmes klappte es beim zweiten Anlauf. Ursprünglich angesetzt war es noch gegen Ende der letzten Saison, also mitten im Jubiläumsjahr von Beethovens 250. Geburtstag und sollte gleichzeitig mit dessen Würdigung zwei wegweisende Choreographien der abstrakten Neoklassik nach längerer Pause auf die Stuttgarter Bühne zurückbringen. Deren Schöpfer wagte es, sich mit Musik des deutschen Titanen auseinander zu setzen. Allerdings noch bevor ihm bekannt wurde, dass kein Geringerer als George Balanchine einmal davor gewarnt hatte, dass Beethovens Musik unbezwingbar für den Tanz wäre. Der mittlerweile 88jährige Hans van Manen hatte es in den frühen 1970er Jahren geschafft den Kampf aufzunehmen, denn bereits beim ersten Hören der beiden ausgewählten Kompositionen wurde ihm klar, dass diese zu Tanz werden mussten. Wie sehr beide Komponenten dabei miteinander verschmelzen, war nun auch bei diesen Neueinstudierungen durch Larisa Lezhnina bzw. Nancy Euverink und Ken Ossola zu beobachten.

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„Adagio Hammerklavier“ mit Miriam Kacerova, Roman Novitzky, Anna Osacenko, David Moore, Elisa Badenes, Jason Reilly. Copyright: Stuttgarter Ballett

ADAGIO HAMMERKLAVIER“ bringt drei Paare in leichten weißen Hosen und Kleidern sowie Ohr- bzw. Halsschmuck ins Spiel, deren Geschlechter gemäß van Manens Grundgedanke seines Schaffens gleichwertig, also emanzipiert sind, und die im Prinzip die Entwicklung eines Paares von anfänglicher Missstimmung bis zur finalen Harmonie durch deklinieren. Musikalische Grundlage ist, wie der Titel schon andeutet, die lyrisch grundierte Hammerklavier-Sonate Nr. 20 B-Dur op.106. Allerdings nicht in einer beliebigen Interpretation, sondern der durch extrem langsame Tempi hervorstechenden Einspielung mit Christoph Eschenbach. Denn diese Extreme ermöglichen erst den langen Atem der Choreographie, das viele Innehalten oder Verharren in bestimmten Posen und vor allem die Spannung des zwischenmenschlichen Raums. Dafür bedarf es Tänzer mit viel Erfahrung und Paare, die durch häufigeres gemeinsames Tanzen miteinander vertraut sind. Egal ob Elisa Badenes und Jason Reilly, Miriam Kacerova und Roman Novitzky oder Anna Osadcenko und David Moore – sie alle beherrschen in allerlei Nuancen die Vermittlung des bei van Manen so typisch unter der abstrakt klaren und etwas kühl anmutenden Struktur vorhandenen Subtextes. In den selbst noch zwischen  Schreiten und Laufen sinnvoll abgewogenen Linien stattfindenden Gesten und teils fragenden Blicken offenbaren sich all jene Metaphern partnerschaftlicher Verbindung in beispielhaft aufs Wesentliche reduzierter Form. V-artig ausgestreckte Arme, Arabesquen als andeutendes Ausdrucksmittel, langsames Heranziehen und Wiederabstossen der Partnerin, Vereinigung am Boden, unmittelbares Abbrechen einer vorbereiteten Figur und noch vieles mehr verdichtet sich zu einem unaufhörlichen Fliessen der Langsamkeit, wofür die bläuliche Hintergrund-Einblendung eines Kreise ziehenden Wassers das passende Symbol liefert.

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„Große Fuge“. Ensemble. Copyright: Stuttgarter Ballett

Klassisch moderne Tanzkunst in schönster ästhetischer Vollendung – damit ist van Manens „GROSSE FUGE“ kurz und bündig beschrieben. Sicher ist es gerade die harmonisch etwas widerspenstig sperrige, Beethovens zunehmende Taubheit hörbar machende Komposition gleichen Titels in B-Dur op.133, ergänzt durch die Cavatina aus dem Streichquartett B-Dur op. 130 (beides in der Fassung für Streichorchester), die den Choreographen zu einem ersten Höhepunkt in seinem Schaffen heraus gefordert haben. Auffallend ist das gleichwertige aufeinander Treffen beider Geschlechter, wobei die zunächst im Hintergrund wartend beobachtenden Frauen weiße Trikots und verschiedenfarbigen Kopfputz tragen, während die Männer in nackten Oberkörpern über ihren schwarzen Shorts zunächst gleichfarbige fußlange Röcke mit breiten Gürteln tragen, an denen sich die später eingreifenden Frauen festhalten, mitschleifen lassen und sich schließlich durch die Beine der in  Hockestellung befindlichen Männer ziehen.

Die Synchronität des Ablaufs verdichtet sich hier noch stärker als im anderen Stück. Und was dabei zwischen u.a. aufstampfenden Füssen, Hüpf und Sprung-Motionen, Anziehung und Abstoßung, abwartendem Aufeinander-Zugehen an Erotik in der Luft liegt, verleiht dem Ganzen eine bei aller Strenge faszinierende rhythmische Leichtigkeit. Die Motivation der 8 TänzerInnen wird auch über den Bildschirm spürbar, mit so viel Lust und gleichzeitiger Genauigkeit werfen sich Rocio Aleman und Clemens Fröhlich, Agnes Su und Ciro Ernesto Mansilla, Veronika Verterich und Timoor Afshar sowie Alicia Garcia Toronteras und Marti Fernandez Paixa in diesen Geschlechter-Kampf auf Augenhöhe. Eine bühnenbreite Leuchtstoffröhre sowie seitliche helle Vorhänge genügen, Alles ins rechte Licht zu rücken, das Augenmerk ganz auf den Tanz und seine InterpretInnen zu richten.

Zwischen diesen beiden auch nach bald 50 Jahren jung gebliebenen Neoklassikern gab sich Italiens führender Choreograph Mauro Bigonzetti wieder einmal die Ehre fürs Stuttgarter Ballett zu choreographieren, wo mit seinem Engagement vor rund 25 Jahren seine internationale Karriere ihren Anfang nahm. Der ehemalige Tänzer und Leiter des Aterballetto zeigte sich schon immer furchtlos im Umgang mit schwierigen musikalischen Grundlagen und hatte somit auch keine Probleme, es mit Beethoven aufzunehmen. Und so begegnet er 3 Klaviersonaten (C-Dur, A-Dur und E-Dur) mit dem Flügel als einzigem Bühnenrequisit im Mittelpunkt in urmusikalischer Weise, lässt den Tanz quasi aus diesem (Pianist: Andrej Jussow) entstehen. Zuerst sind die 8 TänzerInnen um ihn geschart, neigen die Köpfe hin und her, stützen ihn auf eine Hand, fassen sich an den Händen und verschränken sie ineinander, dann werden die 4 Paare für Soli, Duos oder auch mal ein Trio und Quartett aus dem Dunkel ins Licht geworfen. Kristopher Millar hat sie in schicke kurze schwarze Tutus bzw. schwarze Hosen mit originellen farblich kontrastierenden Miedern und Jacken gesteckt.

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„Einssein“. Ensemble und Pianist. Copyright: Stuttgarter Ballett

Bigonzetti unterstreichet mit dem Titel „EINSSEIN“ das Bedürfnis des Menschen nach körperlicher Nähe, nach Harmonie, die speziell in der derzeitigen auf Distanz setzenden Pandemie schmerzlich vermisst wird, uns aber doch im Alleinsein wie unter einer Glaskugel vereint. Ein strenges Testsystem innerhalb des Theaters macht es möglich, dass hier der nun lange vermisste enge Körperkontakt endlich wieder stattfinden kann. So ist auch via Bildschirm die Seligkeit aller Beteiligten über dieses Zugeständnis an körperlicher Nähe spürbar. Die sinnliche Handschrift des Choreographen hätte ohne diese Möglichkeit wesentlich an Eindringlichkeit verloren, und so verschlingen sich die Körper immer wieder ineinander und halten auch mal einen Moment inne, dass nur noch der Atem zu hören ist. Suchspiele mit den Händen oder innige Hebungen sorgen für weitere berührende Momente, die kurze Vereinnahmung des Flügelkörpers für ein ekstatisches Solo führt zu einem Gipfelpunkt, ehe die TänzerInnen nach und nach im Dunkel verschwinden. Friedemann Vogel findet selbst hier noch zu einer Erweiterung seiner Ausdrucksmöglichkeiten, Elisa Badenes und Hyo Jung Kang beweisen ihre hohe Kompetenz an musikalischer Einfühlsamkeit gepaart mit feinster technischer Unauffälligkeit, die dreifache Preisträgerin beim Prix de Lausanne 2019 Mackenzie Brown nützt ihre erste Chance als neues Corps de ballet Mitglied mit entwaffnender Lässigkeit und gleichzeitiger Präzision, Matteo Miccini, Alessandro Giaquinto, Adhonay Soares Da Silva und Vittoria Girelli fügen sich mit schmiegsamem Körpereinsatz ins Ensemble.

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„Einssein“ mit Friedemann Vogel und Elisa Badenes. Copyright: Stuttgarter Ballett

Ballett und zeitgenössischer Tanz fließen hier so eng ineinander wie sich die Musik mit der Choreographie verschwistert.

Als Ganzes ein Programm, das auch anderen Tanzschöpfern Mut machen sollte, Beethoven als wohl bezwingbaren musikalischen Ausgangspunkt zu nehmen.

Zuletzt ein großer Dank an Porsche, dem Sponsor des Stuttgarter Balletts, ohne den dieser live stream nicht möglich gewesen wäre und die Tänzer keine Chance gehabt hätten, auch konditionell betrachtet wieder motiviert auf ein Ziel hinzuarbeiten.

 

                                                                                                                      Udo Klebes

 

 

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