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STUTTGART/ Ballett: ATEM BERAUBEND. Premiere

Von Tod und schwarzen Löchern

29.06.2019 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett

„ATEM-BERAUBEND“ 28.6. 2019 (Premiere) – Von Tod und schwarzen Löchern

Auch die letzte Premiere der ersten Spielzeit von Ballettintendant Tamas Detrich setzt nicht auf Bewährtes und mehrfach Aufgewärmtes, spannt vielmehr zwei für das Stuttgarter Ballett ganz neue Handschriften mit einem schon lange nicht mehr gezeigten und in optischer Hinsicht gut dazu passenden Opus zusammen. Nach dem höchst wertvollen Handlungsballett „Mayerling“ waren nun drei zeitgenössische Choreographen angesagt, die jedoch im Vergleich Sir Kenneth MacMillans Pas de deux kaum weniger modern erscheinen lassen.

Die größte Aufmerksamkeit galt Akram Khan, dem aus Wimbledon von Einwanderern aus dem Bangladesch stammenden Philosophen unter den Choreographen, der mit seiner eigenen Compagnie die einzigartige Verbindung von klassisch indischem Tanz und zeitgenössischen Formen repräsentiert und nur ganz selten mit klassisch geprägten Ballettensembles arbeitet. Stuttgart ist die nach dem English National Ballet und dem Königlichen Ballett von Flandern erst dritte und die erste deutsche Compagnie, mit der Khan nun einen Vertrag abgeschlossen und sogar gegenüber Renommier-Institutionen wie das Moskauer Bolshoi-Ballett und das Pariser Nationalballett bevorzugt hat. Laut einem Gespräch hat er hier die für ihn so wichtige Offenheit gegenüber Neuem, die Leidenschaft der Tänzer und nicht zuletzt die ihn überzeugende Zukunftsvision der Direktion vorgefunden. Die TänzerInnen sind es denn auch, die im Übrigen nicht nur Khans Arbeit, sondern auch die der beiden anderen Tanzschöpfer des Abends, mit spürbarem Brennen für eine Erweiterung ihrer körperlichen Möglichkeiten sogar noch besser aussehen lassen als sie es von der rein choreographischen Substanz betrachtet sind. Am wenigsten gilt dies für Khan, der als Pendler zwischen zwei Welten, der Tradition des indischen Khatak und zeitgenössischen Strömungen unterschiedlichster Bereiche, scheinbar Unvereinbares so ineinander fließen lässt, dass daraus ein spezieller Stil entstanden ist, auch wenn dies Khan aufgrund seines Verständnisses des Lebens als beständiger Wandlung nicht hören mag.


Kaash: Friedemann Vogel. Copyright: Stuttgarter Ballett

KAASH“ (aus dem Hinduistischen mit „Wenn“ zu übersetzen) wurde bereits 2002 von seiner eigenen Compagnie uraufgeführt, allerdings für nur 5 Tänzer. 2017 war für das Flandern Ballett eine Überarbeitung  für 14 Tänzer erfolgt. In dieser Besetzung kam es nun im Sinne von Khans beständiger Entwicklung wiederum überarbeitet auf die Stuttgarter Bühne. Der Bühnenraum von Anish Kapoor zeigt eine rote Rückwand mit einem großen schwarzen Loch in Anspielung auf die unlängst fotografierte Erscheinung im Weltall. Die Zeit betrachtet durch die Brille von Wissenschaft und Kunst, von Mythologie und Quantenphysik. Das mag sich verkopft anhören, doch löst Khan beides in Tanz auf, der Ritus und sinnliche Erfahrung zugleich ist. Ausnahmetänzer Friedemann Vogel nutzt diese neue Herausforderung, mit seinem optimal trainierten Körper, zumal seiner hier dank freiem Oberkörper (darunter ein schwarzer Lederrock!) sichtbaren Rückenmuskulatur den Spagat zwischen kraftvoller Strenge und entschleunigtem Detaillieren ins  beste Licht zu rücken. Da darf die Frage nach einem tieferen Grund oder gar Inhalt auch unbeantwortet bleiben. Auch wenn Vogels Bewegungs-Qualität alles andere überragt, folgen ihm die weiteren 13 TänzerInnen einmütig entfesselt durch die hier erstmals live gespielte Schlagzeug-Komposition von Nitin Sawhney,  Fünf Musiker des Staatsorchesters Stuttgart gestalteten sie  mit dynamischer Beweglichkeit zur akustisch idealen Ergänzung. Statt des terminlich verhinderten Choreographen durfte Nicola Monaco als Einstudierer seiner Werke zusammen mit den TänzerInnen den ausgiebigen Jubel entgegen nehmen.


Out of Breath:  Elisa Badenes, Shaked Heller. Copyright: Stuttgarter Ballett

Das Publikum schien den ganzen Abend über in Feierstimmung und überschüttete auch die beiden anderen Präsentationen mit doch etwas überraschender Intensität. Wobei wie schon erwähnt die enthusiastische Hingabe der TänzerInnen im Mittelpunkt stand und so die Choreographen entsprechend davon profitieren konnten. So auch Johan Inger, der gleichfalls zum ersten Mal für das Stuttgarter Ballett arbeitete, wenn auch mit einer bereits 2002 für das Nederlands Dans Theater II geschaffenen Arbeit namens „OUT OF BREATH“. Dem ehemaligen Leiter des renommierten Cullberg-Balletts seines Heimatlandes Schweden war damals aufgrund einer dramatischen Geburt seines Sohnes bewusst geworden, wie nahe Leben und Tod beieinander liegen, wie fragil diese Grenze ist. Daraus ist dieses Werk für sechs TänzerInnen entstanden, drei Paare in raffinierten Schwarz-Weiß-Kostümen ( Mylla Ek ), die auf verschiedene Art versuchen, die Hürden ihres Lebens (mittels einer wellenartig geschwungenen Mauer) in Anläufen, Rundläufen oder mit Hilfe ihrer Partner zu bewältigen. Nicht immer mit Erfolg. All das ist eingebettet in eine nicht sonderlich aufregende, wenig Überraschungen bietende Choreographie. Elisa Badenes, Hyo-Jung Kang, Agnes Su, Jason Reilly, Louis Stiens und Shaked Heller lassen indes viele persönliche Kräfte und Farben einfließen, wobei letzterer auch in Khans Stück eine ganz besondere Note, weil spürbare Lust an freiem Bewegungsvokabular, einbrachte. Auf gleicher Höhe mit ihnen, wenn nicht sogar als alles überragend darf die Musikauswahl bezeichnet werden: zwei Streichquartette, zuerst das mit teils sirenenartig unheilvoll flächigen Signalen behaftete opus 2 von Jacob Ter Veldhuis, dann eine von einer höchst virtuos, erregend schnell geführten Solo-Violine (verdienter Jubel für Sebastian Klein ) gekrönte, verschiedene Volksmusik-Einflüsse improvisatorisch mischende Komposition von Felix Lajko.


Hikarizatto:  Alicia Amatriain + Jason Reilly. Copyright: Stuttgarter Ballett

Musikalisch gesehen beginnt das Programm wiederum mit einer rhythmisch lässigen wie soghaften Schlagzeug-Percussion von sanften Gongs bis zum donnernden Paukenwirbel aus der Feder von Percossa. Auch hier wie schon in „Kaash“ waren die fünf Schlagzeuger des Staatsorchesters immens gefordert, so dass zumindest in der musikalischen Komponente die dramaturgische Verknüpfung kleiner orchestraler Formationen besteht. In „HIKARIZATTO“, das Itzik Galili 2004 für das Stuttgarter Ballett kreiert hatte und jetzt erstmals wieder einstudiert wurde, bildet sie den Impuls für ein dynamisch unentwegtes Bewegungsspiel auf einem durch viele Lichtkegel schachbrettartigen Feld voller Quadrate. Erlebnisse in Tokyo mit dem Wuseln von Menschenmassen im Licht und wieder hinaus haben den israelischen Choreographen ohne klassische Tanzausbildung dazu inspiriert. Ein unaufhaltsamer Sog von immer wiederkehrenden, teils stereotypen Mustern, zumal in den hin und her reißenden Partner-Kombinationen, lassen das Ganze durch das Fehlen jeglichen Inhalts relativ schnell erschöpfen. Wären da eben nicht wieder die Tänzer, die sich angetrieben von der Musik, in die stilistisch freie, aber ihre klassischen Wurzeln dennoch nicht verleugnende Choreographie mit z.T. unwiderstehlichem Drang werfen. Voran Hyo-Jung Kang, die im Anfangs-Solo auch Spitzenkunst zeigen darf, gefolgt von Adhonay Soares Da Silva in einem weiteren Solo, wo er seine überragende Technik zur Geltung bringt, sowie Alicia Amatriain und Jason Reilly als besonders biegsame Paarung.

Offensichtlich war das Aha-Erlebnis auf die Uraufführung begrenzt, die damalige Faszination wollte sich jetzt nicht mehr einstellen.

Alles in allem ein Triumph der TänzerInnen über die Choreographen. Der Übertitel „Atem-Beraubend“ gilt ganz klar ihnen!

Udo Klebes 

 

 

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