Stuttgarter Ballett: „ANNA KARENINA“ 14.3.2025 (Premiere) – das schlechte Gewissen tanzt mit
Miriam Kacerova (Anna) zwischen 2 Männern: David Moore (Karenin) und Marti Paixa (Wronski): Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Es bestand schon länger die Frage, ob John Neumeier noch ein weiteres seiner Ballette aus seinem rund 170 Werke umfassenden Schaffen mit dem Stuttgarter Ballett einstudieren würde, dort wo seine Anfänge als Tänzer in den 1960er Jahren stattgefunden haben. Nun ist es das erst 2017 für seine Hamburger Compagnie entstandene Ballett nach dem berühmten Roman von Leo Tolstoi geworden. Eine komplexe Kreation, die bereits bei einem Gastspiel in Baden-Baden im Oktober 2018 in unserer Region zu sehen war.
Der damalige Eindruck eines Zwiespaltes zwischen fragwürdiger Zeitverschiebung und durchaus starken choreographischen Eingebungen hat sich nun bei der Stuttgarter Premiere zum Positiven gewandelt. Vor allem hinsichtlich einer gesteigerten emotionalen Vermittlung und Verdichtung des Geschehens, die dem intimeren Stuttgarter Opernhaus und der größeren Nähe zum Publikum zu verdanken sein dürfte.
Die Verlegung dieser Geschichte der Weltliteratur, die die Stellung der Frau im Geist der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts behandelt, in unsere Zeit, hat Neumeier aus dem Ansatz damaliger Gegenwart und zu Beginn des Romans noch gar nicht stattgefundener Kriegsereignisse begründet. Aber auch aus dem Aspekt der unter gesellschaftlicher Beobachtung stehenden Anna Karenina, die zudem in ihrem Versuch Ehemann Alexej und den Geliebten Graf Wronski zu versöhnen und mit den Kindern aus den beiden Beziehungen zusammen zu halten – heute würde man von einer Patchwork-Familie sprechen – ein sehr modernes Frauenbild verkörpert. Insofern ergibt die Zeichnung Annas als Gattin eines den Wahlkampf gewinnenden Politikers das Portrait der ständig von Fotografen und Paparazzi Verfolgten. Darin eingeengt sehnt sie sich nach einem freieren besseren Leben. Doch trotz einer glücklichen Zeit mit Wronski, dem sie auch ein Kind gebärt, lassen sie die Gedanken an ihre Familie, vor allem ihren Sohn Serjoscha nicht los, weshalb sie wieder nach Hause zurück kehrt. Als Wronski sich dann auch in der Öffentlichkeit bei einem Opernbesuch der Prinzessin Sorokina zuwendet und Annas quälende Träume, als schlechtes Gewissen aller Beteiligten in Gestalt des zu Tode kommenden Arbeiters, eines Muschik, verkörpert, auf den Gipfel getrieben werden, sucht sie den Freitod. In Anspielung auf den im Roman erfolgenden Sturz vor einen Zug entgleist auf der Bühne Serjoschas an der Rampe entlang fahrende Lokomotive. Gleichzeitig versinkt Anna im Boden. Eine einfache, aber symbolisch sehr stimmige Lösung auf der mit vielfältig verwandelbaren weißen Wandsegmenten, einer Treppe, Betten und nur wenigen Requisiten schnell und filmschnittartig verwandelbaren Bühne, für die ebenso wie für die zwischen Sportdress und Business/Ball-Kleidung changierenden Kostüme und das Licht Neumeier selbst verantwortlich zeichnet. Nur Annas diverse schlicht schicke Design-Kleider hat Albert Kriemler entworfen.
Untreue und Zweifel bestimmen indes auch die beiden weiteren, mit dem Haupt-Trio familiär verknüpften Paare, Annas Bruder Stiva und seine Frau Dolly sowie deren Schwester Kitty, die zuerst mit Wronski verlobt wird und dann ein vielleicht doch auch zweifelhaftes Glück an der Seite des sie sehnsuchtsvoll erträumten aristokratischen Gutsbesitzers Lewin findet. Letzterer sucht in der Natur als Bauer das wahre Leben, Stiva treibt mit seinen zahlreichen Weibergeschichten, angefangen beim Kindermädchen, später mit Tänzerinnen am Bolschoi-Theater, die Ehefrau zum Verlassen der Familie. Die fünf Kinder (Schüler der John Cranko-Schule) halten die schon mit gepacktem Koffer bereit stehende Mutter mittels berührender Eingebungen schließlich davon ab.
Einen zeitgenössischen Stempel hat Neumeier seiner Bühnenfassung durch eine tiefe psychologische Ebene mit der Visualisierung der Träume Annas (und auch Wronskis) versehen. Dazu passt auch die insgesamt einfühlsam zu den jeweiligen Szenen ausgewählte musikalische Aufsplitterung in konventionelle Klänge diverser unbekannterer Kompositionen von Peter Tschaikowsky, die typisch alptraumhaft exzessiv metallisch und chaotischen Klangcluster von Alfred Schnittke sowie als Gegenentwurf für die Natur Songs von Cat Stevens, wo z.B. die Feldarbeiter in der Kulisse eines Heuhaufens und einem von Kitty gesteuerten Traktors zum ohrwurmartigen „Morning has broken“ ihre Sensen im Rhythmus bewegen. Mikhail Agrest hat das mit Intensität wie auch Sensibilität spielende Staatsorchester Stuttgart genau auf die jeweiligen Stimmungsparameter hin vorbereitet.
Neumeiers choreographische Sprache verquickt klassisch Grundiertes mit einem umfangreichen Kaleidoskop an Tanztheater-Elementen, verstrickt Körper in meist expressiv verständliche Bewegungs-Gebilde und ergänzenden gestischen Zeichen, wie z.B. bei Annas Vermittlung des bevorstehenden Nachwuchses an Wronski, bei der mit vielen Tüchern in einem Bett recht spannend aufgebauten Geburtsszene oder gleich zu Beginn in der wie heutigen Nachrichten entnommenen Wahlkampfszene mit hochgehaltenen Plakaten und lautstark unterstützender Menge.
Manchmal wäre weniger mehr, die Komprimierung auf die wichtigsten Personen konzentrierter, andererseits bereichern die Nebeneinanderstellung bzw. Ineinanderfügung gleich dreier Paare das Gesellschaftsbild auch im heutigen Gewand in seiner inhaltlichen Dichte.
Matteo Miccini (Lewin) und Yana Peneva (Kitty). Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Nach längerer Zeit und das erste Mal seit ihrer zweiten Babypause wurde Miriam Kacerova wieder eine Hauptrollen-Premiere anvertraut. Diese Gelegenheit nutzte die in ihrer Natürlichkeit und technischen Versiertheit eher stille Erste Solistin für eine den Charakter Annas glaubhaft und in ihrer fraulichen Apartheit unaufdringlich verkörpernde Interpretation. In dieser lässt sie Eleganz, Feinsinn wie auch sportive Anleihen gleichermaßen zur Geltung kommen. In den Pas de deux mit Wronski, auch in der Traumszene mit dem erwähnten Muschik flammen immer wieder leidenschaftliche Funken auf. Ersterer ist mit dem wie immer charismatischen und in Rollenauffassungen intuitiv talentierten Marti Paixa optimal besetzt. Statt des Pferdesports widmet er sich hier mit seinen Regimentsathleten dem groben und brutalen Schlägerspiel Lacrosse, dessen Opfer er in seiner Unkonzentriertheit aufgrund der Nachricht über das bevorstehende Kind mit Anna wird. Den Spagat zwischen sportlichem Krafttraining und wesentlichen Anforderungen an klassische Tanzkunst schafft er mühelos und erweist sich dabei erneut als starker zuverlässiger Partner. Zuletzt auch für die neue Flamme Prinzessin Sorokina, der Abigail Wilson-Heisel viel Noblesse auf Spitze verleiht.
Den ganz auf seine politische Position konzentrierten Karenin stellt David Moore als durchaus stolzen Machtmenschen mit präzisen Schritten und klaren Gebärden auf die Bühne, zeigt im privaten Bereich als Partner indes auch feinfühligere Züge.Mizuki Amemiya fungiert als Assistentin Lydia mit auf Spitze zum Ausdruck gebrachter tröstlicher Zuwendung.
Miriam Kacerova (Anna) mit Mitchell Milhollin (Sohn Serjoscha). Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Eine wichtige Rolle ist Annas Sohn Serjoscha zuerkannt, den Mitchell Milhollin in seiner ersten Solo-Aufgabe fast zu einer weiteren Hauptpartie aufwertet, mit so viel Intensität, Innigkeit und trotz seines Erwachsenenalters erfrischend transportierter Kindlichkeit gibt er ihr, alles was sie braucht. Ein verdienter Erfolg für den bislang eher unauffällig gebliebenen Nachwuchs-Tänzer. Außer ihm ist auch Lewin in seiner Naturverbundenheit und einfachen Menschlichkeit ein Sympathieträger. Matteo Miccinis weitreichende Ausstrahlung, seine Eignung für solistisch konzentrierten Einsatz und Charaktergebung machen ihn zu einer Idealbesetzung. Der Erfolg wurde mit der anschließenden Beförderung zum Ersten Solisten belohnt. Auch für Yana Peneva, die Kitty in ihrer Beziehungskrise sehr eindringlich als Nervenbündel umsetzt, war es ein Glückstag, wurde die erst diese Saison ins Corps de ballet gekommene, bereits während ihrer Ausbildung mit einigen wichtigen Preisen bedachte Amerikanerin doch sogleich zur Solistin ernannt. Was sie sonst so drauf hat, wird sie dann hoffentlich bald auch in ganz anders gearteten Rollen beweisen können.
Mackenzie Brown muss solches nicht mehr. Als ehegeplagte und von ihren Kindern wieder aufgefangene Dolly kommt hier mehr ihre darstellerische Ader als virtuose Spitzentänzerin zum Zuge. Ihren Glück bei anderen Frauen suchenden Gatten Stiva interpretiert Clemens Fröhlich als durchaus auch Sympathie weckenden Charakter mit Herz für viele weibliche Wesen.
Die psychologisch eingeführte Figur des Muschik im Müllmann-Dress ist für Jason Reilly im späten Stadium seiner Tänzerlaufbahn eine fast maßgeschneiderte Rolle, in der seine Kraft, Leidenschaft und Erfahrung ideal ineinandergreifen.
Neben zahlreichen kleinen Rollen sind dem Corps de ballet vielseitige Funktionen als Wahlvolk, Lacrosse-Spieler, Zuschauer, Festgäste, Opernbesucher sowie den erwähnten Landarbeitern, mal in klassik-naher Synchronität, mal in frei-theatraler Form auferlegt.
Mackenzie Brown (Dolly) und Clemens Fröhlich (Stiva) mit Kindern: copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Auch mit bis zum Schluss nicht ganz weggewischten Bedenken bezüglich der gewählten Jetztzeit und einigen im theatralischen Aufwand überflüssig bleibenden Aktionen hat das Stück durch die örtliche Gegebenheit in Stuttgart wie auch die starke Initiative der hiesigen TänzerInnen in seiner erweiterten Innenschau an Mitteilsamkeit und Überzeugungskraft gewonnen.
Im mehr oder minder großen Jubel für alle Beteiligten ließ sich John Neumeier wieder einmal gebührend feiern.
Udo Klebes