Stuttgarter Ballett: „ANNA KARENINA“ 27.3. – mit fast komplett neuer Mann-(Frau-)schaft
Elisa Badenes (Anna) zwischen zwei Männern: Adhonay Soares Sa Silva (Karenin) l. und Satchel Tanner (Wronski) . Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Die Neugier auf John Neumeiers im März erstmals beim Stuttgarter Ballett präsentierte Choreographie nach dem Roman von Leo Tolstoi war bereits im Vorfeld so groß, dass ohne Kenntnis der Kreation alle Vorstellungen ausverkauft waren/sind. An der Skepsis gegenüber der Verlegung der Handlung in die Gegenwart und der Einschätzung einiger überbordender szenischer Vorgänge als einschränkendes Element dürfte sich wohl kaum etwas ändern, doch kristallisiert sich bei wiederholter Betrachtung die Choreographie über weite Strecken als so ausdrucksstark heraus, dass die stilistische Ausstattung vor dem inneren Auge verschwindet oder zumindest zurück gedrängt wird. Und das ist letztlich ein großer Verdienst der Tänzer, die sich in hohem Maße mit ihren Rollen identifizieren und ihre gesamtheitliche Leistungsfähigkeit beweisen.
In der Titelrolle stand jetzt Elisa Badenes, die sich außer ihrem herausragenden technischen Rang im Prinzip als Alleskönnerin bewiesen hat, auf der Bühne. Ohne jetzt die Körpergröße als Maß für die Darstellung der Anna Karenina ansetzen zu wollen, benötigt die Spanierin nach der großen, stattlichen und ausgeprägten Premieren-Interpretin einige Zeit, um als dominantes Zentrum der Geschichte entsprechend zu wirken. Mit fast zerbrechlich filigraner Note müht sie sich um das Selbstbewusstsein der hier als Gattin eines im Wahlkampf stehenden Politikers gezeigten Anna, und beweist erst in der glücklichen Phase mit ihrem Geliebten Wronski (hier ein herausragender Sportler und Lacrosse-Spieler statt eines Turnierreiters) die Stärke einer Freiheit von gesellschaftlichen Normen suchenden Frau. Wie sie letztlich doch an ständigen Zweifeln zerbricht und den Freitod sucht, ergibt bei Badenes eine erhöhte Spannung zu ihrer auch in bodennahen Bewegungsformen immer schwebend leicht bleibenden Ausgestaltung.
Halbsolist Satchel Tanner hat sich erst im Februar mit zwei etwas größeren Aufgaben im Mahler-Programm erfreulich hervorgetan. Dennoch bedeutet Wronski nun als erste Hauptrolle eine immense Herausforderung durch die verlangte Kombination aus solistisch kraftvoller Sportivität und elegant phrasierter Partnerschaft. Beides kann der Amerikaner ohne sichtliche Mühen einlösen, überzeugt sowohl als Athlet wie als liebend sorgsamer Partner. Es bleibt nur noch ein Persönlichkeitsmanko, das seinen Einsatz manchmal noch etwas schwach im Profil wirken lässt. Doch dürfte sich das mit weiteren Einsätzen und mehreren wichtigen Rollenerfahrungen noch entwickeln und stärken.
Adhonay Soares Da Silva markiert das geometrisch präzis ausgearbeitete Gebaren des Karenin äußerst genau, markant in demonstrativer Weise. Allerdings kommt die Arroganz bei ihm weniger zum Tragen, die Gefühle, auch für seine Familie dominieren das politische Machtgehabe. Als Assistentin Lydia tröstet ihn Veronika Verterich mit fein ausgezirkelten Balancen und ehrlich bemühter Sorge. Dass in Alexei Orohowsky aus der Cranko-Schule bereits jetzt ein künftiger Solist steckt, konnte der Ukrainer bereits als Tadzio in Brittens „Tod in Venedig“ beweisen. Einerseits altersbedingt noch mit bubenhaften Zügen, andererseits durch seine Größe schon sehr erwachsen wirkend und deshalb für die eher kleine Elisa Badenes kein so idealer Bühnensohn, überragten technische Details in hohen Sprüngen und leichten Hebungen die spielerische Komponente des Serjoscha.
Clemens Fröhlich wiederholte seinen sympathisch daherkommenden und dennoch in seiner eklatanten Neigung zum Schürzenjäger glaubwürdig anbandelnden Stiwa (Annas Bruder), seine darob zur Eheflucht getriebene Frau Dolly verkörpert jetzt Daiana Ruiz mit der gesamtkünstlerisch deutlich ausgeprägten Note einer erfahrenen Solistin, die auch als Anna eingesetzt werden dürfte.
Henrik Erikson als verträumt lockerer Lewin. Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Als Repräsentanten einer kontrastierenden Naturwelt erwiesen sich der Grundbesitzer Lewin und seine spätere Frau Kitty (Dollys Schwester) auch in dieser Vorstellung als Publikumslieblinge. Henrik Erikson zeichnet den freizügigen Landwirt mit fast träumerischer, gelöster Attitude und einer ansteckenden Fröhlichkeit, die sich im Bangen um Kittys Nervenzustand aufgrund der von Wronski aufgelösten Verlobung zu tiefer Ernsthaftigkeit wandelt. Ob konzentriert auf sich selbst oder in der Interaktion mit Partnern – der Erste Solist weiß stets bewegungstechnisch flexibel und glaubwürdig zu interpretieren. Als Kitty trat erstmals in einer etwas größeren Rolle Gruppentänzerin Abigail Willson-Heisel in Erscheinung und machte vorläufig stärkeren Eindruck als auf Spitze ihr Glück mit Wronski ausstrahlende denn in vehementen körperlichen Schüben ihren Nervenzustand beschreibende Frau.
Elisa Badenes (Anna) mit ihrem klettenhaften schlechten Gewissen in Gestalt von Lassi Hirvonen (Muschik). Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
In der als psychologische Ebene des schlechten Gewissens von Anna und Wronski hinzugefügten Gestalt des Muschik, eines Arbeiters in Müllmann-Kluft, machte Gruppentänzer Lassi Hirvonen sowohl in körperlicher Präsenz als auch in der Komprimiertheit seines klettenhaften Einsatzes nachdrücklich auf sich aufmerksam. Mit diesem solistischen Potenzial dürfte bald eine Beförderung anstehen, auch wenn er hier sein Können der Klassischen Schule kaum zeigen kann.
Wronskis spätere Flamme Prinzessin Sorokina ist mit Farrah Hirsch rollendeckend besetzt.
Auch diesmal trägt das Corps de ballet ergänzt durch Schüler der Cranko-Schule in seinen Auftritten als Wahlvolk, Athleten, Sport- Fest- und Opernbesucher, Bodyguards und Fotografen wesentlich zum fließenden, teils filmschnittartigen Ablauf der Ereignisse bei.
Ein Gutteil des letztlich überwiegend positiven Eindrucks geht auf das Konto der von Neumeier zu den Szenen und auch dem Innenleben der Protagonisten äußerst stimmig ausgewählten Musikstücke von Peter Tschaikowsky und Alfred Schnittke sowie zunächst auch Heiterkeit auslösenden Songs von Cat Stevens. Wolfgang Heinz übernahm die Einstudierung des MD Mikhail Agrest ohne Einbußen und trug so mit dem gesamtheitlich mitziehenden Staatsorchester Stuttgart akustisch zu einem modernen Handlungsballett bei, das wieder für große Begeisterung und zuletzt stehende Ovationen sorgte.
Udo Klebes