Stuttgarter Ballett: „ANNA KARENINA“ 15.05. 2025- Kraftzentrum der Gefühle
Die neuen Karenins: Rocio Aleman (Anna) und Clemens Fröhlich (Karenin). Copyright: Stuttgarter Ballett
Mit Rocio Aleman hat sich jetzt noch eine dritte Erste Solistin den Herausforderungen von John Neumeiers komplex angelegter Titelrolle gestellt und – das wurde schon in den ersten beiden Szenen klar- dem Stück eine noch erhöhte Intensität verliehen. Die strahlende und auch in Krisenmomenten noch durchscheinende Herzlichkeit der Mexikanerin bestimmt ihre Interpretation durch und durch, lässt egal ob in selbstbewusster, an der Seite ihres Politiker-Gatten gute Miene in der Öffentlichkeit machender, Mutterliebe aussendender oder tröstend beistehender Haltung Verständnis und Sympathie für sie erwecken. Vom Anfang im Blitzlicht-Gewitter des Wahlkampfs bis zum von Neumeier so simpel und gleichzeitig symbolstark veranschaulichten Selbstmord erzeugt sie durch ihre dynamisch reiche Emotionalität eine nie nachlassende Spannung. Was wiederum unwillkürlich auf ihr Umfeld ausstrahlt und ihre Partner herausfordert.
An erster Stelle ist das Marti Paixa als Wronski, von dessen schon vielfach gestützter harmonischer Partnerschaft sie bei ihrem Debut noch zusätzlich profitierte. Der Katalane wiederholte seine bereits anlässlich der Premiere gepriesene Leistung vom März durch eine naturgemäß noch gesteigerte Lockerheit und ein effektives Zusammenwirken von athletischer Stärke, Geschmeidigkeit und Sensibilität.
Ein Herz und eine Seele: Rocio Aleman (Anna) und Marti Paixa (Wronski). Copyright: Stuttgarter Ballett
Auch Clemens Fröhlich schöpfte aus Alemans Empathie, spielte bei seinem Debut als Karenin Macht-Demonstration im Wahlfieber, die Liebe zu seiner Frau als Nebensächlichkeit und die Zuneigung zu seinem Sohn prägnant, stolz und den Kampf um Anna nach der Geburt des Kindes aus deren Liaison mit Wronski gefühlsbetont aus. Leider hat er nur noch eine weitere Vorstellung um die tänzerisch-technischen Parameter zu optimieren.
Noch einer ließ sich von ihrem großen Herzen anstecken: Mitchell Milhollin intensivierte als Sohn Serjoscha gegenüber der Premiere noch die Ausspielung kindlicher Bedürfnisse sowie die Hin- und Hergerissenheit zwischen Mutter und Vater.
Bei den beiden anderen in die zentrale Dreieckgeschichte hinein spielenden Paaren empfahl sich jetzt Mizuki Amemiya als gleichfalls zunächst klassische Eleganz und dann feinfühlig nervliche Emphase im Zusammenbruch bietende Kitty. Rührenden Trost und neues Glück spendet ihr Matteo Miccini als Lewin, der den freiheitlich träumerischen Bauern in Körper und Geist locker und phasenweise erheiternd drollig über die Rampe bringt.
Kontrast-Figuren: Matteo Miccini (Lewin) und Mizuki Amemiya (Kitty) mit Nachwuchs. Copyright: Stuttgarter Ballett
Neu dabei ist auch Martino Semenzato als Annas Bruder Stiwa, der dessen latente Seitensprünge gelassen auskostet und sich mit Frau Dolly (die wieder viel Temperament aber auch Leidensfähigkeit signalisierende Mackenzie Brown), umringt von den 5 Kindern einen handfesten Streit liefert. In anderen Rollen hat der italienische Solist indes mehr Profil gezeigt. Alicia Torronteras nützt als Assistentin Lydia die Ehekrise der Karenins ihrem kummervollen Chef nicht nur beizustehen, sondern ihn auch auf leise Art verführerisch zu umgarnen.
Jason Reilly fesselt wieder als finster intensiver, Anna und Wronski bedrängender Muschik – eine starke psychologische Verkörperung des schlechten Gewissens des Liebespaares.
In kleineren Rollen bereits bewährt: Abigail Willson-Heisel als Wronskis neue Flamme Prinzessin Sorokina und Florencia Paez in ihrem Kurzauftritt als spiegelbildliche junge Puschkin-Tatjana in Weiß zu dem eingespielten Auszug aus Tschaikowskys Briefszene
Das Corps de ballet ist für seinen mehrfachen Wandel in unterschiedlichste Gruppierungen zu loben. Und wenn dann noch einer von ihnen besonders heraussticht, könnte dies der Hinweis auf eine Beförderung sein, die prompt nicht lange auf sich warten ließ. Denn bei der Spielplan-Präsentation am nächsten Vormittag wurde der schon mehrfach solistisch hervor getretene Lassi Hirvonen zum Halbsolisten ernannt.
Einen hohen Anteil an der trotz einiger überflüssiger Details fesselnden Choreographie hat die jedes Mal noch bezwingender bewusst werdende Musikauswahl (Tschaikowsky, Schnittke) Neumeiers,
die zum größten Teil vom Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von MD Mikhail Agrest stimmungs- wie wirkungsvoll beigesteuert wurde. – Auch diesmal am Ende ausdauernde Begeisterung!
Udo Klebes