Stuttgart
„ALCINA“ 4.11.2016 (WA 5.10.) – wieder an Fahrt gewonnen!
Stuttgarts neue Alcina Agneta Eichenholz hier mit der Opernstudio-Entdeckung Josy Santos als Oberto (links) und Yuko Kakuta als Morgana (rechts)Copyright: A.T.Schaefer
Bei der letzten Neueinstudierung der inzwischen viel gespielten Händel-Oper in der Spielzeit 2012/2013 schien Jossi Wielers und Sergio Morabitos Erfolgsinszenierung die Luft ausgegangen zu sein, die einstige Direktheit der auf eine sehr menschliche Ebene gehobenen Zauberhandlung war wie verflogen. Umso erfreulicher die Feststellung, dass bei der nunmehr vierten Wiederaufnahme der 16 Jahre alten Produktion die Geister wieder belebt werden und dank eines insgesamt ausgewogen hoch qualifizierten Sänger-Septetts die vielen musikalischen Perlen glänzender als zuletzt erstrahlen konnten. Und so geriet die 66. Vorstellung und siebte dieser Neueinstudierung zu einem kurzweiligen Reigen aus Affekt gesteuerten und von Wehmut durchzogenen Solo-Gesängen, deren reichhaltige Ausdrucksvaleurs wieder einmal nur Staunen hervor riefen.
In der Titelrolle hätte ursprünglich Stuttgarts derzeitiger Sopran-Star Ana Durlovski debutieren sollen, doch eine Lungenentzündung zwang sie zum Rücktritt. Für eine Mehrzahl der Aufführungen, so auch die hier besprochene, konnte mit der innerhalb weniger Jahre zu internationaler Reputation gelangten Agneta Eichenholz ein hochwertiger Ersatz verpflichtet werden. Nicht nur, dass sie Alcina umfassende spielerische Glaubwürdigkeit als machtbesessen Liebende mit allen Attributen zwischen Eifersuchts-Attacke und zärtlicher Hingabe zu geben weiß – diese Bandbreite spiegelt sich auch in ihrem klangreichen Zwischenfachsopran wider, der ihr außer dynamischen Registerwechseln auch leichten Umgang mit Koloraturen erlaubt. Mit etwas mehr an Raffinesse und sinnlicher Betörung würde sich die Faszination von dieser zentralen Frauengestalt noch erhöhen, aber auch so kann sich die Schwedin als Ausgangspunkt erotischer Verwirrungen mühelos behaupten. Ihr ebenbürtig und noch eine Stufe durchdrungener präsentiert sich wieder Diana Haller als ihr Geliebter Ruggiero. Der nun vollkommen geschliffene Mezzosopran mit warmer Tiefe und immer heller werdender Höhe lotet die Zerrissenheit zwischen der Hörigkeit gegenüber Alcina und seiner verlassenen Braut Bradamante mit erregend impulsiver und dabei immer kultiviert bleibender Gesangslinie und beherzten Akzenten aus. Dazu kommt ihre gestalterische Beweglichkeit, auch wenn ihre Kollegin Stine Marie Fischer als zunächst in Männerkleidern unter dem Namen des Bruders Ricciardo auftretende Bradamante in ihrer überragenden Körpergröße für eine Hosenrolle die bessere Figur abgibt. Dafür kann die technisch tadellos funktionierende, ausgerechnet nach unten etwas dünner werdende Altistin an Interpretationstiefe nicht mithalten. An vokalem Temperament und Leuchtkraft wird sie auch von Josy Santos überboten. Kaum zu glauben, dass die Brasilianerin noch zum Opernstudio gehört, ihr Vortrag ist bereits so ausgewogen, ihre Gestaltung des verzweifelt nach seinem Vater suchenden Knaben Oberto so berührend und gleichzeitig mitreißend, dass die Kürze der Rolle nur bedauert werden kann. Eine direkte Übernahme der Mezzosopranistin ins Ensemble wäre sehr zu wünschen.
Mit Alcinas Schwester Morgana hat sich die jüngst zur Kammersängerin ausgezeichnete Yuko Kakuta eine Partie erarbeitet, die ihren Koloratursopran mit leichter Höhe und gewachsenem Mittellagen-Gewicht ins vorteilhafteste Licht setzt. Ausgesprochen fein und mit einer vor Überzeichnung schützenden gewissen Distanz spielt sie ihre Gefühlsschwankungen aus.
Und weil nun auch die beiden männlichen Rollen endlich mit der Barockoper würdigen attraktiven Stimmtimbres besetzt sind, dem expressiv zupackenden und dabei schön auf Linie bleibenden Tenor Sebastian Kohlhepp als verlassenem Geliebten Oronte, und dem zwischen Härte und Schmelz reibungslos funktionierenden Bassbariton Arnaud Richard als Bradamantes Erzieher Melisso.
Nach noch etwas flachem und einförmigem Beginn entfaltete der englische Barock-Spezialist Christian Curnyn mit dem ins Zuschauer-Blickfeld hochgefahrenen Staatsorchester Stuttgart Händels mit oft einfachen Mitteln erzielte Stimmungs-Nuancen mit frischem Zugriff ohne Extravaganzen.
Parallel dazu offenbarte sich die Regie des Hausherrn in Anna Viebrocks Traum und Realität mit einfachen Verwandlungen und Spiegelungen verbildlichender Szene durch viele kleine Gesten und Blicke sowie gleichzeitiger Interaktion mehrerer Personen in beständiger psychologischer und damit auch emotionaler Dichte.
Die Reaktion des Publikums war folgerichtig verdient stürmisch.
Udo Klebes