SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS – Kammeroper von Karl Amadeus Hartmann am Theater Vorpommern / Bühne Stralsund – Premiere am 20. Januar 2024
Foto: Theater Vorpommern
Zufälle gibt es im Leben immer wieder: weil ich als junger Mensch die Druckschrift „Deutsche Fraktur“ fließend lesen konnte, obwohl sie schon nicht mehr gebräuchlich war, fiel das Referat im Literaturunterricht auf mich, das den Barockroman Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens, Der Abenteuerliche Simplicissimus, behandelte. Ob mich damals der Roman als Ganzes oder die Absonderlichkeiten des Titelhelden mehr faszinierten, kann ich heute nicht mehr sagen. Jedenfalls prägte sich die Geschichte mir ein und ich weiß noch, dass ich den Roman später noch mehrfach gelesen habe. Eines Tages fand ich in einem in der jungen DDR weit verbreiteten Opernführer, Das neue Opernbuch von Günter Hausswald (4.Auflage, 1954) eine erste Beschreibung von Hartmanns Oper – damals noch basierend auf dem Material der Kölner Uraufführung. Als das nachfolgende Opernbuch von Peter Czerny (1958) erschien (Hausswald hatte die DDR verlassen und seine Bücher durften nicht mehr verbreitet werden!), war Hartmanns Oper wohl noch enthalten, wurde aber im Einleitungstext bereits einschränkend dahingehend kommentiert, dass wohl Zeitnähe und künstlerische Wirksamkeit sein Hauptanliegen seien, dessen Verwirklichung aber an seiner subjektiv-individualistischen Haltung scheitert. Damit war die Sache erledigt, es gab in DDR-Zeiten möglicherweise eine Aufführung in Dresden, das Stück spielte keine Rolle in den Spielplänen der Theater.
Nächster Zufall: aus einem Nachlass einer lieben Kollegin fielen mir einige Klavierauszüge zu, die nur im Westen zu haben waren, darunter der zu unserer Oper. Ich studierte den Klavierauszug am Klavier, was ein mühsames Geschäft und wenig ergiebig war, unzufrieden legte ich ihn ins Regal zurück. Dort schlummerte er, bis eine erste CD-Veröffentlichung erschien: 1995 bei WERGO erschien die Aufnahme des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahre 1985, die der unvergessene Heinz Fricke mit größter Präzision und größtmöglicher Durchsichtigkeit leitet. Nun war mit Hilfe des Klavierauszuges und dieser CD ein genaueres Studium des Werkes möglich, an dessen Ende ich mir im Jahre 2003 notierte: Es bleiben folgende Fragen offen: wieso hat dieses Werk sich nicht im Spielplan durchsetzen können, obwohl es doch ein eindeutiges Bekenntnis gegen die Musikpolitik der Nazis darstellt, obwohl es mit vergleichsweise geringem Aufwand auskommt (also auch von mittleren Bühnen bewältigt werden kann), obwohl es an Chor-, Orchester- und Solistenbesetzung keine unüberwindlichen Schwierigkeiten stellt, obwohl es von der Spieldauer eher zu den kurzen Stücken gezählt werden muss. All diese Komponenten empfehlen das Werk für alle Spielpläne – dennoch wurde es weitgehend ignoriert und steht heute nicht mal mehr im Opernführer! Einer der Gründe dafür liegt sicher in der Musik – wenn es außer einem zitierten Bach-Choral, den ohnehin jeder kennt, nur das Couplet des Hauptmanns gibt, das man sich – weil es vier Strophen hat (!) – dann einigermaßen merken kann, ist es eben für eine Oper ein bissel wenig. Auf längeren Textpassagen des Simplicius und auch des Einsiedel gibt es musikalische Konstruktionen, deren Schwierigkeit man bewundern, ihre Wirksamkeit und Verständlichkeit man vergebens suchen kann.
Letzter Zufall: im Jahre 2023 taucht das Werk plötzlich auf einem Spielplan auf – das Theater Vorpommern bringt es zunächst im Kaisersaal Greifswald (stellvertretend für das im Umbau befindliche Theater) zur Aufführung und startet schließlich auf der Hinterbühne des Theaters Stralsund eine zweite Serie, was deshalb nicht ganz korrekt ist, weil Orchester und Akteure auf der Hauptbühne platziert sind, während die Zuschauer auf einer über dem eigentlichen Orchestergraben gebauten Tribüne das Ganze verfolgen. Insofern war die Aufführung durchaus mit der Greifswalder konvertibel – beide Premieren (die Greifswalder fand am 23. 09.2023 statt) hatten vor jeweils ausverkauftem Auditorium großen Erfolg. Auditorium soll heißen – vor etwa 100 Zuschauern. In Greifswald fand ich das der Not der Ausweichspielstätte geschuldet, in Stralsund empfand ich es – bei aller Anerkennung für eine gelungene Aufführung – als Mogelpackung. So groß ist das Haus in Stralsund nun auch wieder nicht, dass man es hätte nicht von der Bühne herab in den Saal präsentieren können. Angst vor der eigenen Courage? Misstraut man dem Werk am Ende doch?
Wie es auch sei – Leitungsteam und Ensemble haben Großartiges geleistet, die Aufführung im Ganzen als auch einzelne Details haben nicht nur überzeugt, sondern gleichsam bewiesen, dass das Werk nicht nur bühnentauglich, sondern auch bühnenwirksam ist. GMD Florian Csizmadia leitete die Aufführung souverän, hatte nicht nur das solistisch besetzte Orchester, sondern den gesamten Apparat sicher im Griff und ermöglichte so eine Aufführung, der man niemals anmerkte, wie kompliziert das eigentlich ist. Kompliment! Wolfgang Berthold verzichtete weitgehend auf anekdotische Attribute in seiner Inszenierung, sondern vertraute gänzlich auf die Präsenz seiner Darstellerinnen und Darsteller. Die waren ausnahmslos sehr engagiert bei der Sache, insbesondere die Damen, Pihla Terttunen als knabenhafter Simplicius, der die heiklen Gesangspassagen nahezu mühelos meistert und fast vergessen lässt, dass das eigentlich eine Kinderstimme sein müsste, was musikalisch natürlich nicht geht, überzeugend auch ihre Wandlung am Schluss, mit fast akrobatischer Einlage (obwohl ich diese Veränderung am Stück ehrlich nicht verstanden habe!); ebenso Franziska Ringe, die als Sprecherin in die Szene integriert war und mit Ruhe und Souveränität das Geschehen eindrucksvoll kommentierte. Ebenso rollendeckend die Besetzung der Herren, insbesondere Bassem Alkhouri als Einsiedel, mit schöner kultivierter Stimme der Bauer von Jovan Koscica. Die drei unangenehmen Zeitgenossen lagen mit Thomas Rettensteiner in immer wieder faszinierender stimmlicher Fülle als Landsknecht, Maciej Kozlowski in einer skuril-präzisen Charakerstudie als Hauptmann und dem etwas zurückhaltenden Semjon Bulinski als Gouverneur in besten Händen. Großen Anteil am Erfolg des Abends hatten der Opern- und der Kinderchor des Theaters Vorpommern in der Einstudierung von Csaba Grünfelder. Das solistisch besetzte Orchester hätte ein Sonderlob verdient, wenn es das Theater ermöglicht hätte, dass man die Abendbesetzung hätte erfahren können; das war nicht der Fall, also mögen die Damen und Herren sich mit einem pauschalen Lob begnügen; außerdem waren die Grubenlampen, die jeder einzelne trug, um seine Noten erkennen zu können, ein sehr amüsanter Einfall.
Das Publikum in beiden Städten folgte der Aufführung mit großem Interesse und spendete hier wie dort reichlichen Beifall.
Werner P. Seiferth