Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

Stefan MICKISCH: Wagner, Strauss und weit darüber hinaus

19.09.2015 | Instrumentalsolisten

Wagner, Strauss und weit darüber hinaus… Interview mit Stefan Mickisch Nach Mickischs letzter Wiener Strauss-Matinee im Juni (“Zarathustra”) brannten mir viele Fragen auf den Lippen, zu deren Beantwortung sich der Künstler gern bereit erklärte. Nach einem zeitbedingt kurzen Vorgespräch im Hotel Imperial einigten wir uns darauf, Fragen und Antworten für unser Festpielheft schriftlich zu formulieren, was dem Künstler umso leichter möglich war, als er ja bis auf weiteres seine Bayreuth-Matineen (nach 450 Vorträgen mit 150.000 Besuchern in 15 Jahren) abgesagt und somit viel Zeit für Neues gewonnen hat. Wie erklären Sie, dass Richard Strauss erst relativ spät seine ersten Opern geschrieben hat? Fühlte er sich erst dann den orchestralen Herausforderungen gewachsen oder lag es an den fehlenden Libretti? Richard Strauss hat in seinen 9 Tondichtungen von “Macbeth” bis zur “Alpensinfonie” eigentlich bereits “opernartige” Programm-Musik geschrieben, in der Zeit von 1889 bis 1912. Liszt nannte seine durch ein äußeres Programm inspirierten Orchesterstücke “Sinfonische Dichtungen”, Strauss nennt sie “Tondichtungen”. “Aus Italien” ist eine “Programmatische Sinfonie”. Die “Libretti” der genialen Tondichtungen von Strauss’ “Don Juan”, “Till Eulenspiegel”, “(Also sprach) Zarathustra”, “Don Quixote” und “Ein Heldenleben” sind Vertonungen des MÄNNLICHEN, Strauss´ Opern hingegen sind WEIBLICH, beleuchten die FRAU: “Salome”, “Elektra”, “Frau ohne Schatten”, “Rosenkavalier” (Hauptfigur: die Marschallin), “Ariadne auf Naxos”, “Arabella”, “Die Liebe der Danae”, “Daphne”, “Die ägyptische Helena” usw. Darunter gibt es sogar etwas sehr Seltenes: eine “schweigsame Frau”…

Was faszinierte ihn, der ja doch ein ganz “normaler” Mensch war, an den perversen, durch die Bank “verrückten” “Salome”- Charakteren so sehr, dass ihm dazu eine derart geniale Musik einfiel? Mit dem Wort “pervers” würde ich höchst vorsichtig umgehen. Meines Erachtens ist Jochanaan mindestens so “pervers” wie Salome, denn welcher normale Mann isst Heuschrecken und Honig und mißachtet schöne Frauen?

Nachfrage…Weil er durch den erwarteten Skandal auf sich aufmerksam machen wollte, doch wohl kaum? Oder? Das, was inhaltlich “noch nie dagewesen” war, reizt die Fantasie, ebenso das “Verbotene”, Neue, möglicherweise “Verruchte”. Die Nach-Wagner-Epoche bringt umwälzend Neues: Nietzsches späte und große Philosophie, Sigmund Freud (“Die Traumdeutung” 1900, “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” u.a.), Klimt und Schiele, Rudolf Steiner, Franz Schreker (“Der Ferne Klang”, in Frankfurt 1912 uraufgeführt, bringt ein Bordell auf die Bühne), Bergs “Wozzeck” ist nicht mehr weit (1925). Strauss war zunächst im Symphonischen, dann auch im Opernbereich am Puls der Zeit, an der Spitze der Bewegung der Moderne. So eine Art “in Kauf genommene” Skandale, aber doch auf Grundlage hochkompetenter Stücke, darf man Strauss bei den von Ihnen genannten Werken schon zutrauen. Er hat bereits mit “Don Juan” und “Eulenspiegel “ Bürgerschreck-Qualitäten bewiesen, liefert mit “Also sprach Zarathustra” 1896 ein klares antichristliches (durchaus “skandalöses”) Statement, das er in der “Alpensinfonie” (die, was wenige wissen, auf der Grundlage von Nietzsches “Antichrist” angelegt und komponiert ist) bestätigt.

Sowohl “Salome” als auch “Elektra” haben einen mehr als anspruchsvollen Text. Bei jeder guten Aufführung fällt mir irgendeine Textstelle auf, die mir vorher nicht bewusst geworden ist (auch bei den späteren Opern). Gibt es Äußerungen des Komponisten, dass ihm bewusst war, dass es kaum möglich sein würde, dem Publikum auf Anhieb den gesamten Text verständlich zu machen? Übertitel gab es ja damals noch nicht. Strauss legte auf Wortdeutlichkeit der Sänger größten Wert, er dämpfte als Dirigent das Orchester stets dynamisch ab. Man weiß, dass Hofmannsthal Strauss nahelegte, den “Orchesterpanzer à la Wagner” abzulegen, was Strauss im “Rosenkavalier” und in der “Ariadne auf Naxos” sowie in der “Arabella” auch tat.

Verlangte er, dass alle Opernbesucher vorher das Textbuch lesen? Nicht direkt, aber die kulturelle Kompetenz damaliger Musik- und Opernfreaks ging oft noch weiter, als nur Textbücher zu lesen. Viele kauften sich Klavierauszüge und hangelten sich durch die Werke durch, und sangen dazu. Ich erinnere mich an meine Kindheit: Meine Eltern haben in diesem Stil noch ganze Mozart- und Strauss-Akte durchmusiziert (statt abendlichem Fernsehen), Papa am Klavier und als “Graf” und “Figaro”, Mama als “Susanna” und “Gräfin”. Und dann spielte zur Abwechslung meine Mutter Klavier, sang die Arabella, und mein Vater daneben den Mandryka. So bin ich aufgewachsen. Eduard Hanslick beschwerte sich, dass man in Wien um 1900 nicht mehr in Ruhe spazieren gehen konnte, weil aus jeder zweiten Wohnung ein Klavier heraustönte. Heute macht man “Kulturpolitik”, damals HATTE man Kultur.

War es Strauss z.B. bei den Mägden am Beginn der “Elektra” mehr oder weniger egal, ob man alles versteht? Ich denke, ja.

Genau wie Wagner hat er hingegen alle Schlüsselstellen so komponiert, dass sie herüberkommen müssen. Genau.

Richard Strauss soll ein fabelhafter Dirigent, nicht nur seiner eigenen Werke, gewesen sein? Was konnte bzw. verstand er, was andere nicht konnten? Strauss war ein Genie, und Genies können mehrere Dinge. Er konnte komponieren, dirigieren, Violine, Klavier (und Skat) spielen, gut rechnen, kannte sich in Literatur und Philosophie aus, war Gründer der heutigen GEMA.

Ist Genie erlernbar? Hans Moser (ebenfalls ein Genie) führt in einem wunderbaren Film als Briefträger Habernal ein Gespräch mit der Haushälterin Anni Rosar über “Genie”, über Genialität. Moser/Habernal sagt zu ihr: “Genie, des hatma, oder des hatma net. Sie zum Beispiel, Sie hams nicht!” Anni Rosar rollt die Augen und erwidert: “Ah geh, jöh, aber Sie – “ – “Ja”, sagt Hans Moser, “ich – ich habs.” Damit ist alles gesagt.

Was verlangte Strauss in erster Linie von den Dirigenten seiner Werke? Klarheit der Auffassung und des Schlages, Übersicht.

Wo hat er das Dirigieren gelernt? Bei seinem Vater Franz Strauss, der 1822 in Parkstein in der Oberpfalz – ganz in der Nähe meines Geburtsortes Schwandorf – geboren wurde, der ein so erstklassiger Hornist war, dass er am Münchner Hoftheater bei den Uraufführungen von “Tristan” (1865) und “Meistersinger” (1868) das 1. Horn spielte und 1864 in München das spitzenmäßige Symphonieorchester “Die wilde Gungl” gründete, welches bis heute (!) aktiv ist. Richards zweiter Dirigierlehrer war dann gleich Hans von Bülow, der bereits 1885 dem 21-Jährigen als Nachfolger die Meininger Hofkapelle übergab. Genie … “des hatma, oder des hatma net…”

Ich habe bei meinen vielen Opernbesuchen gelernt, die Wagner- und Strauss-Dirigenten in zwei Gruppen einzuteilen: diejenigen, die (mehr oder weniger) großartige Orchesterkonzerte mit vokaler Begleitung präsentieren und die, die den Inhalt der Oper mitdirigieren bzw. dem Publikum vermitteln und dabei natürlich die Sängerdarsteller entsprechend “zu Wort” und Ton kommen lassen. Sehen Sie das auch so? Ich verstehe, was Sie meinen, habe aber andere Kriterien. Die Dirigenten, die mich am meisten beeindruckt, auch geprägt haben, sind: Sergiu Celibidache (besonders intensiv, habe Meisterkurse bei ihm besucht), James Levine (Bayreuth RING und PARSIFAL), Horst Stein (am selben Ort MEISTERSINGER, plus Mozart-Variationen von Reger mit den Bamberger Symphonikern), Carlos Kleiber, Karajan, Bernstein, Claudio Abbado. Heute überzeugen mich wenige Dirigenten, was wohl daran liegt, dass ich mich selbst so intensiv mit den Werken befasse.

Wo lagen Ihre Vorbilder auf dem Klavier? Auf dem Klaviersektor setzten Massstäbe für mich Glenn Gould (die Fernsehaufnahmen), Gulda, Argerich, Gelber, Maisenberg und Sokolov. Natürlich auch Horowitz und Swjatoslav Richter. Über meine russischen Klavierlehrer Leonid Brumberg und Oleg Maisenberg habe ich ein wenig “Anteil” an der russischen Klavierschule, die eine schöne Verbindung mit Richard Wagner aufweist. Richter sagte, er habe drei Lehrer gehabt, seinen Vater, Heinrich Neuhaus und Richard Wagner.

Mir ist erst bei ihrer letzten Matinee-Serie im Wiener Konzerthaus bewusst geworden, in welchem Ausmaß Strauss auch in den “Tondichtungen” Inhalte vermittelt, die ich so kaum jemals in Orchesterinterpretationen gehört, erlebt habe … Ja – vielleicht kümmern sich Dirigenten einfach zu wenig um diese Inhalte. Es ist schon nützlich und wichtig, Dinge zu wissen. Nur runterpinseln reicht nicht. Man kann HÖREN, wenn Dirigenten nichts, oder zu wenig wissen.

Von vielen Komponisten weiß man, dass sie vorzügliche Dirigenten waren (Strauss, Wagner, Dvořák, Hindemith, Britten, jüngst in Wien Thomas Adés….). Ist das Zufall?  Viele Komponisten waren geniale Dirigenten, besonders auch Gustav Mahler, Franz Schreker, Zemlinsky, Korngold. Andere waren geniale Pianisten, Organisten oder Geiger, wie Mozart, Bach, Beethoven, Franck, Brahms, Chopin, Ravel, das ist die Regel. Dvořák war ausgezeichneter Bratscher und wirkte bei der Uraufführung der “Verkauften Braut” des Kollegen Smetana mit, ein Hammer. Wer schon mal eine Sache genial beherrscht, der meistert auch noch zwei, drei andere Sachen brillant.

Wissen Sie bei den Komponisten-Dirigenten Gegenbeispiele? Ja, Schumann. Genialer Komponist, als Pianist seiner Frau unterlegen, als Dirigent nicht durchsetzungskräftig. Dafür ein Literat, Dichter und Kritiker erster Güte.

Zum Schubladen-Denken von Beckmesser (= Hanslick) bis Adorno: Ist z.B. die Verdammung von R. Strauss als Verräter an der “modernen” Musik überhaupt ernst zu nehmen?
Als Phänomen ja, als Werturteil nein. Von Nietzsche habe ich gelernt, an Widerständigem zu lernen.

Wer nimmt diese Supergescheiten ernst? Die Theoretiker wie Hanslick, Adorno dürfen ernst genommen werden, sollen aber nicht richtungweisend sein. Musik ist eine Sprache des Herzens, nicht der Vermessung.

Warum wohl hat Adorno den Hans Sachs als die unsympathischte Opernfigur bezeichnet (dem Sinn nach, ich weiß es nicht mehr wörtlich, hab ihm aber daraufhin abgeschworen!)? Theodor W.Adorno hat bei Alban Berg Komposition studiert, ist aber als Komponist gescheitert. Seine enorme philosophische und schriftstellerische Begabung hat sich Bahn gebrochen und ich möchte seine Leistungen keineswegs schmälern, aber seine Urteile über Musik und Musiker müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden.  Adorno schreibt im “Versuch über Wagner” (1952) viele Dinge, die sein Problem im Wagner-Verständnis decouvrieren. Er mag Wagner nicht. Es ist unter den 350 Büchern, die ich zu Wagner gelesen habe, eines der unersprießlichsten. Gute Beobachtungen, aber sehr viel Antipathie in Form komplex-phrasenhafter Einsprüche, der Versuch, Wagners Intentionen allesamt (mit Ausnahme der Instrumentationstechnik) als gescheitert oder verlogen darzustellen. In Adornos Büchern und Hör-CDs (sehr interessant) gewinnt man diesen Eindruck: ein trockener Besserwisser, viel leeres Stroh, was er drischt, l´art pour l´ art, blutleer, verquast, oft amusisch. Ein Nicht-Musiker vermisst Musik. Echte Musiker aber machen Musik.

Hatte Adorno nicht enormen Einfluß im Kulturleben Nachkriegsdeutschlands? Generationen von Kritikern und Musikwissenschaftler berufen sich auf ihn… Ich mag und kenne alle Arten musikwissenschaftlicher Analysen, Tonsatz, Kontrapunkt, Harmonielehre, Formen, Thematische und Motiv-Analysen, habe in der Tonartencharakteristik eine eigene “Musikwissenschaft” begründet usw., aber wer kein Herz für die Musik an sich hat, wird es in der Musikwissenschaft niemals entwickeln.

Sie haben sich bis auf weiteres von Bayreuth zurückgezogen. Das ist Ihnen sicher nicht leicht gefallen. Ja und Nein. Die Gründe, die für mich aktuell gegen Bayreuth sprechen, überwiegen. Mir gefallen dort erstens die Inszenierungen und die Art und Weise des Umgangs mit den Werken Richard Wagners seit etwa 2004 (Schlingensiefs “Parsifal”) nicht mehr. Ich finde, dass im so genannten Regietheater unter dem Deckmantel des “Neuen, Aktuellen” zumeist Unästhetik, Unkenntnis und bewusste Provokation bis zur Zerstörung der Werke stattfindet. Die Ausnahme in Bayreuth im letzten Jahrzehnt war meines Erachtens lediglich Herheims “Parsifal”. Das ist etwas unbefriedigend in 10 Jahren. Da Wagner eine wissende, ehrfurchtsvolle und starke Bühne braucht (man geht doch ins Theater, um etwas zu sehen) und diese in Bayreuth nicht mehr existiert, ist es nach meiner Meinung schon ganz egal, WER im Graben dirigiert. Wenn man mit Wagners Musikdramen nicht so vertraut ist, kann man das vielleicht aushalten, wenn man sie aber sehr genau kennt, ist man nur noch demotiviert. Das heißt, Bayreuth hat mir heute künstlerisch nichts mehr zu bieten. Dazu kommt zweitens, dass ich Wagner so ausführlich kommentiert und gespielt habe, dass dem nichts mehr hinzugefügt werden muss, jedenfalls nicht mehr in Bayreuth. Das an Wagners Opern interessierte Publikum hat mich längst gefunden. Nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern weltweit werden meine CDs bestellt, sogar aus Moskau, Japan und Amerika. Zum Dritten bin ich nicht auf Wagner festgelegt und festlegbar. Ich möchte NEUE Werke, NEUE Komponisten entdecken und pflegen, und werde wieder im Ausland konzertieren, in Spanien, den USA, Kanada, Australien, so wie bereits vor meiner Bayreuther Zeit.
Wie war Ihre Beziehung zur Festspielleitung in den letzten Jahren? Gab es da je persönliche Kontakte? Ich habe mich gut mit Wolfgang Wagner verstanden, der 1998 daran mitgewirkt hat, dass mir die Einführungsvorträge in Bayreuth angetragen wurden. Das war eine schöne Stimmung, wir haben viel Kontakt gehabt. Er wusste, was ich für Wagner leistete, und hat mir Vieles (über Wagner und die Festspiele, Dirigenten, Sänger usw) erzählt. Ich war mehrmals in seinem Haus eingeladen. Er kam mit seiner Frau Gudrun sogar zu Konzerten zu mir nach Schwandorf und Himmelkron bei Bayreuth, wo ich wohnte. Mit den Töchtern Eva und Katharina konnte aufgrund von deren Desinteresse an meiner Arbeit dieser herzlich-freundschaftliche Kontakt leider nicht aufrecht erhalten werden.

Welche konstruktiven Vorschläge haben Sie zur Hebung des Niveaus auf dem Hügel? Musikalisch tut bzw. tat sich ja in den letzten Jahren unter Dirigenten wie Thielemann, Schneider, Nelsons, Petrenko, Jordan noch recht Bedeutendes, ebenso sängerisch. Bloß die Inszenierungen ruinieren alles, so sehr, dass die alten Besucher gar nicht mehr kommen und die meisten neuen, die sich gefreut haben, endlich Karten bekommen zu haben, schwören: Nie wieder! Da bei Wagner das Zusammenspiel von Musik UND Bühne das sogenannte GESAMTKUNSTWERK ergibt, kann eine Aufführung nur dann gelingen, wenn Geist und Sinn des Stückes, die sich aus Text und Musik ergeben, auch auf der Bühne umgesetzt werden. “Moderne” Um – oder Zusatzdeutungen können gelingen, wenn die Regie die musikalischen Inhalte, die Tonartensprache, die Harmonielehre und Modulationen, die Motivik und Instrumentationssemantiken usw. kennt und zusätzlich noch Respekt, im Idealfall Liebe zu Richard Wagner aufweisen würde. Dies wäre gleichzeitig der Schlüssel für die Hebung des Niveaus. Nach meinem Eindruck dirigieren aber die von Ihnen genannten Dirigenten in Bayreuth vollkommen umsonst, vergeblich und wirkungslos, WEIL das Regiekonzept nicht passt. Es ist so, wie wenn man eine super Sitzheizung in seinem Auto hat, die unglaublich gut funktioniert, aber die Fensterscheiben gehen nicht zu.

Ist Wagner diesbezüglich “mitschuldig”, weil er das Orchester verdeckt hält, während man sich in normalen Opernhäusern zumindest mit dem Anblick von Dirigent und Orchester über Wasser halten kann, wenn einen die Inszenierung nervt, bzw. in verstärktem Maße auf die Musik und den Gesang konzentriert? Sehr interessante Frage. Nein. Denn wie sollte Wagner die Inszenierungen des 21. Jahrhunderts voraussehen? Nein. Eine andere interessante Frage wäre, ob er mit der Platzierung der Festspiele in Wien, München oder Zürich nicht eine bessere Wahl getroffen hätte (ließe man die finanziellen Gründe außen vor). Dort gäbe es durch die Größe der Städte und die hohe Anzahl von Kultur- und Musikfachleuten immer ein Gegengewicht für eventuelle Entgleisungen. Der Verfall der Bayreuther Festspiele, der sich nicht zuletzt auch in den seit Jahren kontinuierlich schwindenden Besucherzahlen dokumentiert, ist nach meiner Überzeugung ein geistiger; er liegt begründet in Desinteresse, Nichtverstehen oder Nichtverstehenwollen der Wagnerschen Werke, dem Festhalten am dynastischen Prinzip ohne Leistung, und dem Hinterherlaufen nach dem “Zeitgeist”, anstatt ihn positiv zu formen. Es ist gut, dass Wagner nicht auf Bayreuth festgelegt und international wirksam ist.

Nun zu den persönlichen Fragen: Ihr Vater war Musiklehrer, die Mutter Sprachlehrerin – die erbliche Belastung ist also unleugbar. Haben Ihre Eltern Ihnen dezidiert den Weg zu Ihrer so überaus erfolgreichen Tätigkeit gewiesen, Sie beraten oder Ihnen davon abgeraten, Ihren Weg als quasi Einzelgänger zu beschreiten? Oder gilt für Sie Sachsens Antwort auf die Frage: Wie fang ich nach der Regel an? Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann? Ja, meine Eltern haben mir den musikalischen Weg eröffnet. Sie sind beide äußerst musikalisch und sehr vielseitig. Fleiß, Perfektion, Verantwortungsgefühl waren groß geschrieben. Ich lernte Klavier, Orgel, Improvisieren, Violine, Bratsche, Komposition, spielte in Orchestern und Streichquartetten, erreichte 2 Bundessiege in “Jugend musiziert” und mehrere Preise in internationalen Klavierwettbewerben. Nebenbei absolvierte ich als Jahrgangsbester das Abitur und überlegte eine Zeitlang, ob ich meine Lieblingsfächer Geschichte, Latein und vor allem Philosophie studieren sollte. Da mit dem Ziel, Pianist zu werden, naturgemäß ein sehr hohes Übungspensum einhergeht (ca. 7 Stunden täglich), zerschlug sich diese Idee und machte somit den Weg frei für ein professionelles Klavierstudium an den Hochschulen Hannover und Wien. Meine Liebe zum Lesen und Studieren über Musik, Philosophie, Religionswissenschaften, Physik, Geschichte oder Literatur konnte und kann ich in idealer Weise in meine Vortragstätigkeit einbauen. Im Moment erarbeite ich mir Sigmund Freud, Nietzsches Gesamtwerk ist fast geschafft, Schopenhauer, Karl Marx, Thomas Mann, Sloterdijk so gut wie “durch”, an Heidegger und Husserl knabbere ich weiter, und studiere mit Freude neben der Lektüre von Eichendorff, Tieck, Hoffmann, Armin u.a. Werner Kohlschmidts “Literaturgeschichte der Romantik”. In einer späteren Phase freue ich mich auf Fontane. Vielleicht habe ich in den letzten 25 Jahre sogar zu viel gearbeitet. Dafür spiele ich heute mehr Fußball und Tischtennis. Ich muss nicht mehr so viel Klavier üben.

Haben Sie Rückmeldungen, dass auch andere Leute auf Ihren Rat hin auf die Lektüre von Tageszeitungen zugunsten der Philosophen verzichten? (Ich habe es schon vorher getan, weil mir leid war um die Zeit.) Ja, das haben jetzt schon Viele verstanden. Sehr viele Rückmeldungen bekomme ich auf meine “Bücherliste” auf meiner Webpage. Ich möchte dahin wirken, dass sich die Menschen mehr mit den Primärquellen, den Autoren, den Originaltexten beschäftigen als mit in Medien gebrachten Verkürzungen, Verfälschungen oder Ausblendungen. Bildung und Kultur muss man sich über Zeitungen hinweg, an Medien vorbei selber aneignen und erhalten.

Sie haben sich mehrfach positiv über unseren “Merker” geäußert. Warum finden Sie den nicht überflüssig??? Für uns “Verrückte” (die wir uns gern zu den von Ihnen in der letzten Matinee nominierten 95 % der “Normalen” zählen) ist es beseligend, über das, was wir lieben, zu berichten, und damit ein wenig mithelfen, es für die Ewigkeit schriftlich festzuhalten. Aber für Sie als profunder Kenner der Werke, dem wir sicherlich nichts Neues zu sagen haben? Nach meiner Erfahrung gibt es in Deutschland keine so niveauvolle Musikfachzeitschrift wie den österreichischen “Neuen Merker”, eine Plattform, die sich so sehr und auf so hohem Niveau um die Musik und die Künstler kümmert, OHNE an den Kommerz zu denken!

Was sind Ihre nächsten Pläne? Sie arbeiten ja auf vielen neuen Schauplätzen und Ihr Konzertkalender reicht bereits bis 2019. Spielen Sie weiterhin Bratsche in Ihrem heimatlichen Orchester? Die Bratsche hat im Moment Urlaub. Ich genieße es, mich mit den Opern Franz Schrekers und Erich Wolfgang Korngolds zu befassen, und mit dem Gesamtwerk Alexander Skrjabins, dem neben Wagner größten Ekstatiker der Musik, den ich schon in meiner Jugendzeit liebte und spielte. Da gibt es ganz viel Neues zu entdecken! Bald gebe ich Schrekers FERNEN KLANG in Graz (21. September), Ende November werde ich eine Komplettanalyse von Korngolds TOTER STADT mit Radio Stephansdom aufnehmen, 2016 interpretiere ich im Wiener Konzerthaus Puccini, Dvořák, Korngold, Verdi, Wagner und Offenbach. Spätestens 2017 werde ich in verschiedenen Städten (u.a. in München und New York) Alexander SKRJABINS 3., 4. und 5. Sonate spielen, das “Schwerste vom Schweren”. Vielleicht spiele ich wieder einmal mit Orchestern (Skrjabin, Reger, Schumann), oder komponiere ein Klavierkonzert. Wagner pflege ich natürlich auch weiterhin, zum Beispiel hat mich die China National Oper für einen “Ring” angefragt, und soeben sind meine DVDs zum “Ring” erschienen, inclusive englischer Untertitel.  

Ein großer Merker-Dank für alle diese Ausführungen und Informationen! Ihrer Begierde auf Neues schließt sich die unsere an, daran teilhaben zu dürfen. Sieglinde Pfabigan
PS: In Wien erfolgt die Präsentation dieser DVDs am 10.10 im Hotel Imperial, 19.00 Uhr, und am 15. 10. im CD-Geschäft DaCapo Klassik, 1010 Wien, Seilerstätte 30, 18,30 Uhr.

 

Diese Seite drucken