ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Yaron Lifschitz mit „Humans 2.0“
Sehr selten erlebt man so eine Begeisterung im Publikum. Der australische Circa Contemporary Circus zeigte nicht nur Weltklasse-Artistik zur Musik des israelischen Techno-Pioniers Ori Lichtik, die mit elegischen Parts und treibenden Sounds das Eigentliche zurückhaltend unterstützt, sondern lebte in der Choreografie von Yaron Lifschitz die Utopie von einer Gesellschaft des Miteinander. „Humans 2.0“ eben.
Yaron Lifschitz und Circa: „Humans 2.0“ (c) Pedro Greig
Was die zehn ArtistInnen präsentieren, ist schlichtweg atemberaubend. Menschentürme, in denen der Unterbau keineswegs nur den männlichen Kollegen vorbehalten bleibt, Akrobatik am Boden, Skulpturales in Duetten und Trios, eine Frau, die eine „Brücke“ macht und zwei KollegInnen auf sich trägt, in hohen Bögen fliegende Menschen, die sanft gefangen und abgesetzt werden, und am Schluss ein von drei Frauen gebildeter Turm, der gestreckt kippt und von den MitstreiterInnen am Boden vorsichtig empfangen wird. Einige wenige eingebaute Pannen und ein humorvolles „Ätsch, ich fange dich doch nicht!“ erzählen von der Imperfektion und dem erst zu schaffenden Vertrauen, von enttäuschten Erwartungen und der zu investierenden Arbeit, die zum Leben in einer (künstlerischen) Gemeinschaft dazu gehören. Sie bleiben menschlich, die der Generation 2.0.
Der australische, vielfach ausgezeichnete Ausnahme-Zirkus-Regisseur und -Choreograf Yaron Lifschitz schuf bislang mehr als 60 Arbeiten, die in über 40 Ländern der Welt gezeigt wurden. Auch im Festspielhaus St. Pölten war er bereits mehrfach zu Gast. Mit seinen bejubelten Vorstellungen von „Circa’s Peepshow“ (2019) und „Beethoven 9“ (2022) schuf er sich eine Fangemeinde, die vom Volksschulkind bis zum betagten Pensionisten ein weitaus größeres Spektrum als ein „gewöhnliches“ Theater-Publikum umfasst.
Yaron Lifschitz und Circa: „Humans 2.0“ (c) Pedro Greig
Das Licht von Paul Jackson setzt die Akteure wirkungsvoll in Szene. Ob Seitenlicht, der Turm im Deckenspot oder der Boden als leuchtend blaue oder rote Kreisflächen-Unterlage, die Akrobatik bleibt das Wesentliche auf der Bühne. Die öfter einmal gewechselten Kostüme von Libby McDonnell zeigen die ArtistInnen mal sportlich, dann in Straßen-Kleidung. Als träfen sich FreundInnen zum Turnen.
Zwei Soli erzeugen zwischendrin etwas Ruhe, aber keine Entspannung. Ganz im Gegenteil. Eine Frau an zwei von der Decke hängenden Schlaufen „tanzt“ in ihnen beeindruckende Akrobatik. Der Mann allerdings, der am von oben hängenden Seil performt, lässt einem den Atem stocken, wenn er sich nach kraftvoll-schönen Elementen fallen und vom Seil dann doch fangen lässt. Hochpannung!
Yaron Lifschitz und Circa: „Humans 2.0“ (c) Pedro Greig
Sie leben Träume auf der Bühne. Den vom Fliegen, den von der Überwindung menschlicher Begrenztheiten und den von einer wachsamen, fürsorglichen, zärtlichen Gemeinschaft, in der jeder jeden achtet, fördert und unterstützt. Und sie erzählen von Sehnsüchten. Von denen, wohligen Traumbildern Realität geben zu können, der Distanziertheit in der Gesellschaft entrinnen zu können, seine eigenen Grenzen so spielerisch und scheinbar leicht überschreiten zu können und denen nach einer echten Gemeinschaft mit einem widerstandsfähigen humanistischen Wertekanon.
Mit atemberaubender, geradezu hypnotisierender Artistik, tänzerischen und theatralen Elementen, ungeheurer Kraft und trotzdem bezaubernder Eleganz und Ästhetik, außerordentlicher Kreativität im Erfinden von Figuren und Moves, unterstützt durch die beeindruckende Physis der ArtistInnen, präsentieren sie ihre Kunst mit einer Poesie, deren Warmherzigkeit Balsam ist für den Überlebenswillen kälte- und distanz-geschundener Seelen. Der Subtext erzählt von einer Gesellschaft, deren Werte-Fundament das Miteinander ist, vom sich Auffangen, sich Vertrauen, von fürsorglicher Kontrolle, von Zärtlichkeit und Freundschaft. Im Gegensatz zur heute dominierenden Attitüde, dem Gegeneinander.
Yaron Lifschitz und Circa: „Humans 2.0“ (c) Pedro Greig
Mit seiner fantastisch choreografierten, mit viel Zwischenapplaus bedachten 70-minütigen Show entwickelt Yaron Lifschitz die Vision einer solidarischen Gesellschaft, die von der Frage geleitet wird, was wir, jenseits jeder Egozentrik, als Gemeinschaft, die zusammenarbeitet, bewirken und erreichen können. Was bleibt, ist eine Wärme im Herzen, mit der das stehend jubelnde, berührte und beseelte Publikum den zehn herausragenden ArtistInnen ein glückliches Lächeln auf ihre Gesichter malte.
Yaron Lifschitz mit „Humans 2.0“ am 02.03.2024 im Festspielhaus St. Pölten.
Rando Hannemann