ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: „Skid“ von Damien Jalet und „Vïa“ von Fouad Boussouf – am 15.12.2023
Das Ballet du Grand Théâtre de Genève, seit 2022 unter Ballettdirektor Sidi Larbi Cherkaoui, zeigte in dieser Österreich-Premiere zwei Arbeiten, die nicht nur die tänzerische Klasse der Kompanie verband. Damien Jalet und Fouad Boussouf choreografierten zwei ästhetisch höchst unterschiedliche Stücke, die inhaltlich jedoch ihr zutiefst humanistischer Duktus eint.
Für „Skid“ von Damien Jalet, 2017 für die GöteborgsOperans Danskompani kreiert, entwarfen die beiden bildenden Künstler Jim Hodges und Carlos Marques da Cruz das Bühnenbild, eine um 34 Grad nach vorn geneigte Fläche, deren vordere Kante hinter einer schwarzen Wand verschwindet. Den hoch aufragenden hinteren Rand dieser Bühne erklimmen die TänzerInnen für das Publikum unsichtbar.
Ein Erster erscheint oben, kriecht in Rückenlage sehr langsam über den Rand und rutscht langsam in die Tiefe. Weitere folgen. Sie verschwinden unten hinter der Wand, scheinen für unbekannte Zeit und unbestimmten Weg ins Nirgendwo, in ein Off zu gleiten. Eine endlose Reihe von immer neuen „Gleitern“ erzeugen die 17 TänzerInnen. Sie erscheinen mit ihren Uniformen (Kostüme: Jean-Paul Lespagnard) geschlechts- und identitätslos. Was sie zudem eint, ist ihre Hingabe an die Schwerkraft, ihr Loslassen.
Damien Jalet: „Skid“ (c) Gregory Batardon
Der Sound von Christian Fenneszt und Marihiko Hara schwillt an, verzerrter nun begleitet er eine Kette von Menschen, die sich halten aneinander. Paare liegen aufeinander. Aufstehen, fallen, rutschen. Sie bäumen sich auf, winden sich, gleiten durch die Beine anderer, tanzen. Das Licht von Joakim Brink erzeugt scharf konturierte schwarze Schatten der Tanzenden auf der weißen Fläche, „die wie Kalligrafie wirken,“ so Damien Jalet in einem Interview zu dem Stück im vergangenen Jahr.
Sie drehen sich im Rutschen, versuchen verzweifelt, in die Senkrechte und ins Halten zu kommen. Und jeder ist allein. Kurze Begegnungen, diagonale Bewegungen, Domino-Effekte, die das Fallen und Rutschen Vieler provozieren. Zwei aber bleiben oben. Blackout. Zwölf Tänzer bilden in schwarzen Kostümen, gegen die sie ihre Uniformen getauscht haben, diverse Formationen, bewegen sich synchron ab und auf. Das hellere Licht lässt ihre Gesichter erkennen, macht sie zu Individuen. Der Sound wechselt vom Wummern in Klangflächen.
Wellenbewegungen gehen durch die Reihe. Die Gravitation und die Auflehnung gegen sie als kollektive und, beim Erklimmen der Rampe von unten, als individuelle Erfahrung. Duette mit ausladenden Armbewegungen und Drehungen, ein Trio friert seine Moves ein. Man hilft und hält sich beim Aufstieg. Der Sound wird zum rauschenden, hochkomplexen Klangteppich. Die Dynamik nimmt zu, der Sound lauter, sie agieren chaotisch, bilden eine Pfeilspitze nach oben und rutschen ab. Einer bleibt oben, eingehüllt wie in einen Kokon.
Damien Jalet: „Skid“ (c) Gregory Batardon
Äußerst dehnbar diese fleischfarbene Hülle, hängt sie am oberen Rand. Er windet sich in ihr wie eine Raupe vor dem Schlupf, wie ein Fötus vor der Geburt. Lange Zeit dürfen wir dieses ungemein starke Bild auf uns wirken lassen. Er schlüpft schließlich. Oder er gebiert sich selbst. Sein früheres Kostüm, seine Schale und Maske aus seinem vorherigen Leben liegt wie eine abgestreifte Schlangenhaut neben ihm. Er ist nackt, kriecht mühsam nach oben, richtet sich, oben erst und lange kämpfend, auf, steht schließlich und fällt in den Bühnen-Hintergrund, in seine offene Zukunft.
„Skid“ fesselt mit einer außergewöhnlichen Bühnen-Ästhetik, einem Tanz, dessen Bewegungsmaterial gemeinsam mit der Schwerkraft und den physikalischen Gesetzen von Haft- und Gleitreibung entwickelt wurde und mit einem Ensemble auf Weltniveau.
Hingabe als Leitmotiv, Widerstand als Handlungsfeld, Schwerkraft als Metapher für das Gefühl von Schwere, die uns niederdrückt, uns hindert am Aufrichten und uns sabotiert, die uns unser Leben lang begleitet, die wir im Anderen spüren und die uns solidarisch sein lässt, auch im Scheitern. Die Gravitation als Bild für die Fesseln, die uns angelegt wurden zuallererst und am Nachhaltigsten durch elterliche „Erziehung“, deren Produkt in ihrem Selbstwertgefühl beschnittene Menschen sind, die sich fürderhin sozialisieren und zusammentun in Gesellschaften, die nichts anderes sein können als Schauplätze für nach außen gestellte innere Konflikte. Aber: Einige wenige, sehr wenige, begeben sich auf den Weg hinaus aus der Enge, weil sie erkannt haben, dass nicht die Welt sie leiden macht, sondern sie selbst. Sie leeren Rucksäcke nach und nach, streifen Kostümierungen und Maskeraden ab, beginnen einen Emanzipationsprozess, der sie schließlich sich selbst und damit ihren Nächsten näher bringen, der sie einsam machen wird. Aber wahrhaftig.
Das Stück „Vïa“ schuf Fouad Boussouf im April 2023 für das Grand Théâtre de Genève. 13 TänzerInnen. Die Rückwand leuchtet orange. Der Sound (Musik: Gabriel Majou) fließt von Rauschen und Klang in Rhythmus. Sie tanzen aufrecht hüpfend, gehen vornüber gebeugt, lösen ihre Reihe hinten auf und erobern die ganze Bühne. Sie sammeln und drehen sich, hüpfen synchron über die Bühne, bilden diversen Formationen, es erinnert an orientalische Volkstänze, aus denen Einzelne kurz ausbrechen für ihre Soli. Nordafrikanische Moves in bodenlangen, roten Kaftanen, einige mit Kapuzen. Licht auch im Saal. Es beginnt im Orient, im Osten, mit dem Sonnenaufgang.
Fouad Boussouf: „Via“ (c) Gregory Batardon
Die Farben, in denen die Rückwand leuchtet, wechseln plötzlich und ändern die Stimmung völlig (Bühnenbild: Ugo Rondinone, Lichtdesign: Lukas Marian). Kräftig ist das rückwärtige Blau, sie streifen die Soutanen ab, legen blaue Overalls mit weiten Hosenbeinen frei. Nachdenklich stehen sie in einer Reihe vor uns, lassen die Soutanen fallen. Hinten schaltet es auf Rot. Sie winden sich im Stehen, gehen, ein Mann tanzt ein expressives Solo mit Urban-Dance-Zitaten. Weitere folgen, sie synchronisieren sich.
Gelb-Grün und Disco-Rhythmen. Sie schwingen, tanzen zeitgenössisches und Material der Clubkultur. Wellen gehen durch die Körper, sie gehen auf die Knie, bilden Reihen, aus denen jeder einmal ausschert, um seinen eigenen Stil zu zeigen. Plötzlich blau, das Saallicht verlischt, mehr Drums und Bass. In atmenden, sich durchdringenden Kreisen zeigen sie ihre Soli. Ausdrucksstarker Contemporary Dance. Und wieder heim in die Synchronizität. Sound und Tanz sehr rhythmisch.
Sie frieren ihre Bewegungen ein. Das Bühnenlicht aus, nur der Hintergrund leuchtet schwach. Dämmerstimmung. Sie entkleiden sich, scheinen nackt zu sein, tanzen als Schattengestalten wie Amöben, die sich zu einem Organismus formen. Was für ein schönes, poetisches Bild. Der Tanz wird weich, in Wellen fließend, sie freezen ab und an die Bilder, das Licht hinten wechselt unvermittelt ins Rot, der Tanz bleibt davon unbeeindruckt. Ihre Kostüme sind hautenge gelbe Leggings und Tops.
Fouad Boussouf: „Via“ (c) Gregory Batardon
Sie tanzen aus der Reihe, im eigentlichen und im besten Sinne, präsentieren ihre individuelle tänzerische Prägung mit klassischen und zeitgenössischen Moves. Die anderen hüpfen und beugen ihre Oberkörper synchron. Erdig, ursprünglich. Das Licht gelb nun, ihre Bewegungen mechanisch. Gestreckte Arme und Hände. Maschinen gleich scheint ihr Tanz wie der Aufbruch in den Posthumanismus. Den sie aber bald überwinden mit Weichheit, Drehungen, schwingenden Oberkörpern und Beinen und mit Urban Dance. Und sehr bald hüpfen sie wieder ihren arabischen Tanz.
Der Rhythmus pocht unerbittlich, dazu immer wieder Ausbrüche Einzelner in ihre tänzerische Individualität mit folgender Wiedereingliederung in den tanzenden Leib der Gruppe. Das Hüpfen wird zu Wellen durch die Körper. Am Ende, das Licht wird langsam gedimmt als würde es Nacht werden, tanzen sie im Dunkel weiter zu der lange noch spielenden Musik. Sie bedanken sich für den Jubel des Publikums, begleiten das Verlassen des Saales mit Tanzmusik und lange noch anhaltender Party-Stimmung auf der Bühne. Glück durchströmt einen. Wann kann man das noch spüren?
Das Zyklische ist Kerngedanke dieser Arbeit. Tag-Nacht, Tanz-Ruhe, die Rhythmen der Musik und unseres Herzschlages, das Auf und Ab der hüpfenden Menschen, das Ausleben seiner selbst und das Zurückfallen in die und aufgefangen Werden durch die Gemeinschaft. Fouad Boussouf feiert in „Vïa“ ein Fest der Eintracht. Er feiert die Ökumene der Tanz- und Musikstile, der Konfessionen und Ethnien, der Kulturen und Traditionen und der Geschichte mit der Moderne. Auch mit den drei Farben der Kostüme (von Gwladys Duthil) rot, blau und gelb, den Primärfarben, aus denen die Sekundär- und im Zusammenspiel mit diesen die Tertiär-Farben gemischt werden können, stellt dieses Stück den Wert des Einzelnen als Ausgangs-, aber gleichwertiges Produkt neben das Vermischte. Er lässt alles ineinander fließen. Eine Utopie im besten Sinne, eine wie kaum eine andere. „Vïa“ (deutsch „durch“ oder „über“) meint, wie sie durch alles gehen, es wertschätzen, ja lieben. Aber nichts hat Bestand, nichts ist von Dauer.
Fouad Boussouf: „Via“ (c) Gregory Batardon
Die ohnehin zeitlich-historisch und regional unbeschränkte Aktualität des Stückes wird durch die jüngst sich noch klarer formulierende Qualität unserer Zeit in bedrückender Weise bestätigt. Sie leben tanzend auf der Bühne den sich transformierenden, entwickelten Menschen, im Gegensatz zum primitiven, der diesen Planeten bevölkert und allgegenwärtig, mit seinem Handeln und Unterlassen, im Kleinen wie im Großen, spricht von der Notwendigkeit ethisch-moralischer, sozialer und insbesondere psychischer (R)Evolution. Sehr weit ist der Weg bis nach „Vïa“. Und doch liegt es direkt vor unserer Nasenspitze.
Das Ballett des Grand Théâtre de Genève ist eine herausragende, ethnisch diverse Kompanie mit brillanten, klassisch ausgebildeten, aber für alles offenen TänzerInnen. Ein großartiger, berauschender, zudem dramaturgisch geschickt gebauter Abend. Mit der Freude, die Fouad Boussouf mit seinem Stück „Vïa“ erzeugt, zurück in die wirkliche Welt zu gehen, ist ein sehr seltenes Geschenk.
Damien Jalet mit „Skid“ und Fouad Boussouf mit „Vïa“ am 15.12.2023 im Festspielhaus St. Pölten.
Rando Hannemann