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ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Saisoneröffnung mit Hofesh Shechter und Sharon Eyal

25.09.2023 | Ballett/Performance

20230923 FSH St. Pölten Hofesh Shechter Sharon Eyal

ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Saisoneröffnung mit Hofesh Shechter und Sharon Eyal

Die Intendantin des Festspielhaus St. Pölten Bettina Masuch eröffnet die Saison 2023/24, die zweite unter ihrer Leitung, mit einem Paukenschlag. Die israelischen ChoreografInnen Hofesh Shechter und Sharon Eyal und insbesondere die GöteborgsOperans Danskompani unter der künstlerischen Leitung von Katrín Hall begeisterten das ausverkaufte Haus mit der Österreich-Premiere ihrer Stücke „Contemporary Dance“ und „SAABA“.

Die gemeinsame künstlerische Vergangenheit der beiden ChoreografInnen, beide waren TänzerInnen in der von 1990 bis 2018 von Ohad Naharin geleiteten „Batsheva Dance Company“ (Eyal von 1990-2008), verbindet sie und ermöglichte ihnen gleichzeitig die Entwicklung ihrer so unterschiedlichen choreografischen Handschriften.

Der 1975 in Jerusalem geborene und seit 2002 in England lebende studierte Tänzer und Musiker Hofesh Shechter gründete 2008 die Hofesh Shechter Company mit Sitz in London. Für diese und viele namhafte Kompanien, unter anderen für „Seven Sins“ von „Gaulthier Dance“ Stuttgart, die am 06.10.2023 in St. Pölten zu Gast sein werden, schuf er eine Reihe von international gefragten, mit ihrem kraftvollen Duktus für ihn bald typische Werke.

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Hofesh Shechter „Contemporary Dance“ (c) Lennart Sjöberg

„Contemporary Dance“ beginnt unvermittelt. Lauter elektronischer Sound, markige Rhythmik, Deckenspots zerschneiden die diesige Luft, 15 TänzerInnen in Alltagskleidung (Kostüme von Osnat Kelner und Hofesh Shechter) füllen die Bühne. Sie teilen sich in Gruppen wechselnder Größen, fesseln vom ersten Augenblick an mit hochenergetischem Tanz zu treibenden Rhythmen. Klare Gesten prägen ihre Bewegungssprache, sie zitieren Volkstanz, Pop-Kultur, Disco, Flamenco und Voguing.

Der Sound wird dumpf, als hörten wir ihn unter Wasser. Eher wohl wie im Mutterleib, aus dem geboren zu werden plötzlich heller Klang und intensives Licht suggerieren. In fünf Parts gliedert Shechter seine Erzählung vom Leben in der westlichen, vielleicht israelischen Welt. In die hinein geboren worden zu sein heißt konfrontiert zu werden mit jüdischer, arabischer und US-amerikanisch-westlicher Kultur, heißt, den Konflikten zwischen diesen und den kulturkreis-immanenten Zwängen kaum entrinnen zu können.

Soziale Reglementierungen, Gruppendruck und religiös-ideologische Doktrin werden zu separierenden und gruppenspezifisch integrativen, integrierenden Regulatorien. Beeindruckend aber die Botschaft des divers gemischten Ensembles, aufgereiht vor dem Publikum, dass wir trotz alledem Eines sind. Und dass es nur einen Weg gibt. Den, zusammen zu leben.

Zu Bachs „Air“ tanzen sie zeitgenössisch, führen nicht nur die Ethnien, Geschlechter und Individuen, sondern auch Tradition und Moderne zusammen. Beschwörung, Anbetung, Verzweiflung, Abwehr, Selbstermächtigung und Kampfeswille in ihren Gesten. Dominant erscheint die Rolle der Männer in dieser Gemeinschaft. Der Kampf der Frauen in der männlich-patriarchal geprägten Gesellschaft wird eindrucksvoll in einer Szene demonstriert, in der von fünf Frauen vier sich wieder eingliedern in die von Männern breitbeinig und selbstgerecht, mit zwingendem Rhythmus getanzte Menge. Eine, die außen vor bleibt, wirkt gebrochen, doch getragen von ihrem Willen.

„And now the end is near“, Part V, wird zum fulminanten Finale. Sinatras „I did it my way“ als Soundtrack für eine Gruppe von Menschen, die ihre Befreiung tanzen. Ihre Freude am Sein, am Ich, am So Sein, am Individuellen wie der Gemeinschaft ist ansteckend. Zwei werden, hinter dem schon fallenden Vorhang, wie Kreuze oder Gekreuzigte von Mitmenschen aufgefangen und in die Tiefe der Bühne gezogen.

Shechters Tanz ist reine Freude, ist Befreiungsritual und das Spüren seiner selbst, ist Ausdrucks- und Kommunikationsmittel, führt in sich und zum Anderen gleichermaßen. Einige der Zuschauenden bedauerten danach, dass für dieses Stück Sitzplätze verkauft wurden, war die Vorstellung doch solchermaßen mitreißend, dass ein mehr Bewegungsfreiheit bietender Stehplatz wünschenswert erschien.

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Hofesh Shechter „Contemporary Dance“ (c) Lennart Sjöberg

Aber es ging Hofesh Shechter in diesem Stück nicht ausschließlich um energetischen Tanz. Shechter bricht mit „Contemporary Dance“ das Leben in heutigen westlichen Gesellschaften in viele kleine Stücke, markiert diese mit klarer tänzerischer Gestik und fügt sie zu einer Vielzahl von sich atemlos jagenden performerischen Intermezzi zusammen. Das daraus entstehende Gesamtbild einer sich in die Freiheit tanzenden Gemeinschaft von bunt zusammengewürfelten Individuen, ihre Kostüme und ethnischen Herkünfte erzählen davon, ist ein wahrhaft Mitreißendes. Gemeinsam mit dem Soundtrack (von Hofesh Shechter) und einer stimmungsvollen Lichtregie (Tom Visser) treibt „Contemprary Dance“ Kompanie und Publikum in tranceähnliche Euphorie.

Und da ist noch etwas: Die losgelassene kraftvolle Anarchie. Die, die tief in den meisten von uns schlummert, verdrängt schon in den Kindertagen. Geblieben ist eine Sehnsucht danach, die, verschiedentlich angestachelt, ungestillt zurück bleibt. Die GöteborgsOperans Danskompani tanzt unsere Träume von Rebellion und „Fickt euch alle!“.

Ganz anders „SAABA“ von Sharon Eyal. Geradezu kühl empfindet man, zumindest zu Beginn, den zweiten Teil des Abends. Wäre da nicht die der Choreografin eigene, unverkennbare Handschrift des aus den Tiefen emotionaler Welten aufsteigenden tänzerischen Duktus, der sich mit unwiderstehlicher Macht in die Physis der Tanzenden schreibt. In ihrer nach 2012 und 2018 dritten Arbeit für die GöteborgsOperans Danskompani lässt sie die 13 TänzerInnen, einige von ihnen tanzten bereits den ersten Teil des Abends, über weite Strecken der 45 Minuten auf den Fußballen tanzen. Schwerstarbeit, die diese Reihung der beiden Stücke begründet haben mag.

Die 1971 ebenfalls in Jerusalem geborene und seit Langem in Frankreich lebende Sharon Eyal beeinflusste Batsheva in den Jahren 2005-12 als Haus-Choreografin, 16 Stücke kreierte sie in dieser Zeit, wesentlich. 2013 gründete sie gemeinsam mit ihrem langjährigen Partner Gai Behar, seit 2005 verbindet sie künstlerische Zusammenarbeit, ihre eigene Kompanie „L-E-V“ („Herz“ im Hebräischen), deren bislang sieben Stücke weltweit gezeigt wurden und werden.

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Sharon Eyal „SAABA“ (c) Tilo Stengel

Hautenge, fleischfarbene Kostüme (von Maria Grazia Chiuri für House of Dior), einige wie mit zarten Tattoos bedruckt, vermitteln direkteste Körperlichkeit, in der sich komplexe Emotionen manifestieren. Ihr Tanz auf den Ballen, als würden sie sich einer ungeliebten Realität entheben wollen, ist nur eine der physischen Herausforderungen, mit denen Eyal das Ensemble konfrontiert. Das Bewegungsvokabular versetzt Grenzen. Mit ins Extrem getriebenen Verdrehungen, Verbiegungen und Dehnungen beeindruckt gleich zu Beginn Miguel Duarte in einem unfassbar expressiven Solo. In das hinein queren in großem Abstand auf den Ballen tippelnd Frauen die Bühne. Die Hände am Hals zum Würgegriff. Der wird zu einer auch von Männern mehrmals gezeigten zentralen Geste. Wie auch die ausgebreiteten Arme, die die Frauen wie ans Kreuz genagelt zeigen. Wie zur Pfeilspitze, die auf sie zielt, formiert sich die Gruppe hinter einer.

Duarte zeigt den verbildeten, verformten, aller Natürlichkeit beraubten Menschen. Und Mann. Psychische Deformationen ins Physische transponiert. Ein Mann springt in klassischer Manier in den den Spagat. Mit seinen würgenden Händen am Hals. Die erstickende Macht von Traditionen und Erbe.

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Sharon Eyal „SAABA“ (c) Tilo Stengel

Sie tanzen in höchstem Tonus, in perfekter Synchronizität. Aus dieser ausbrechende Frauen werden alsbald wieder eingefangen respektive schicken sich drein. Die Prozession von die Bühne querenden Frauen, die mit der Hand an der Stirn, Blendungen vermeidend, suchen und vor dem Erschauten erschrecken, wird zum Sinnbild für den Prozess der Bewusstmachung und Integration unbewusster, als ungeliebt verdrängter Persönlichkeitsaspekte. Eyal schickt Frauen auf diese Reise, während die Männer hinten breitbeinig und mit vorgeschobenem Becken Macht und Virilität leben. Doch sie lassen sich anstecken.

Die Entdeckung der eigenen Macht, der eigenen Verantwortung für sich selbst und der Wandlung vom Opfer edukativer, sozialer, gesellschaftlicher und religiöser Einflüsse in den Schöpfer seiner selbst überträgt Eyal einer Frau. Sie löst ihre Hand vom Hals, mehrmals, überrascht von der Wirkung. Zu treibendem Streicher-Staccato. Die Musik von Ori Lichtik, der elektronische Musik mit aufgezeichneten Songs mischt, hat gerade mit den verwendeten Liedern (auch arabische und afrikanische Interpreten unter ihnen) sicher noch mehr beizutragen zum Sujet als während der Performance deutlich wird.

Sie lösen den Würgegriff, weisen mit dem Zeigefinger, die Hand an der Wange, auf ihr Auge. Es, also sich anzuschauen ist der Weg zu einer integrierten Persönlichkeit. Wieder einmal verschwinden sie im Hintergrund. Bis auf eine Frau, die mit nur fast gerade abgespreizten Armen wie gekreuzigt seitwärts tippelt und damit einen weiblich und männlich besetzten Reigen eröffnet. Solistisch beeindruckt Amanda Åkesson mit ihrer Darstellung von Schmerz und Lust in dieser Pose.

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Sharon Eyal „SAABA“ (c) Tilo Stengel

Fünf Frauen tippeln auf den Ballen, sechs Männer hüpfen provokant selbstherrlich zum Discotakt. Eine der Frauen lässt sich nicht einfangen. Sie bleibt allein, im rot werden Licht (von Alon Cohen).

Sie schützt ihre Weichteile, gibt sie frei. Der Song „Station to Station“ von Erin Elisabeth Birgy, ein Lied von der Selbstbefreiung ohne Angst vor dem Bösen in einem, erklingt.

Auf ihrer Suche nach menschlicher Wahrhaftigkeit dringt Sharon Eyal tief in ihre und die Gefühlswelt ihrer TänzerInnen ein. Und sie adressiert damit die emotionalen Rezeptoren bei ihren ZuschauerInnen. Die GöteborgsOperans Danskompani, mit ihren 38 TänzerInnen die größte Skandinaviens, agiert mit seltener Geschlossenheit. Wie einen einzigen Organismus erleben wir sie in den Ensemble-Parts beider Stücke. Solistische Leistungen aus dieser brillanten Kompanie noch einmal herauszuheben erscheint fast ungerecht gegenüber den durchwegs herausragenden Leistungen aller. Die Kraft, Energie, Hingabe und Ausdrucksstärke, das perfekte Timing und die Präsenz der TänzerInnen sind einzigartig. Was für ein Erlebnis! Beide Stücke wurden mit Standing Ovations bedacht.

Die zur Pfeilspitze aufgestellt Gruppe hinter ihr wedelt sich lange mit der Hand vor dem Hals. Endlich Luft zum Atmen. Sie dreht die Handflächen seitlich gehalten nach vorn, offen für alles, was sie ist und was kommt. Die anderen hinter ihr folgen. Mit dem fallenden Vorhang wird das Licht blutrot. Zurück bei sich selbst. Zurück im Leben.

Hofesh Shechter mit „Contemporary Dance“ und Sharon Eyal mit „SAABA“ am 23.09.2023 im Festspielhaus St. Pölten.

Rando Hannemann

 

 

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