ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Pina Bausch und Germaine Acogny & Malou Airaudo
Festspielhaus St. Pölten am 09.10.2021: „COMMON GROUND[S]“ und „Das Frühlingsopfer“
Einen ganz besonderen, zweiteiligen Abend erlebte das Publikum des ausverkauften Festspielhauses St. Pölten mit Germaine Acogny & Malou Airaudo, die ihre gut zwei Wochen zuvor in Madrid uraufgeführte Choreografie „COMMON GROUND[S]“ zeigten, und Pina Bausch’s „Das Frühlingsopfer“, erstmalig getanzt von Tänzer*innen aus Afrika.
Germaine Acogny & Malou Airaudo: „COMMON GROUND[S]“
„Es war ganz einfach.“, berichtete die inzwischen 73-jährige Malou Airaudo, lange Jahre Tänzerin in Pina Bausch’s Tanztheater Wuppertal, von ihrer Zusammenarbeit mit Germaine Acogny, 75, der „Mutter des afrikanischen zeitgenössischen Tanzes“, wie sie genannt wird, im August erst auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk geehrt, gemeinsam mit ihrem Mann Helmut Vogt Gründerin der „École des Sables“, einer Tanzschule im Senegal für Tänzer*innen aus ganz Afrika, die inzwischen, wie mit Tänzer*innen aus der ganzen Welt, auch mit dem Brüsseler PARTS der Anne Teresa de Keersmaeker ein Austauschprogramm unterhält.
Germaine Acogny & Malou Airaudo: „COMMON GROUND[S]“ (c) Roswitha Chesher
Sie beschlossen, so erzählte Acogny im August in einem Interview mit Brigitte Fürle, der Intendantin des Festspielhauses, das Mutter Sein, die Zärtlichkeit, das Frau Sein, das, was sie lieben und was nicht in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen. In zarten, einfachen, manchmal so kleinen Gesten sprechen die beiden über Vieles, erzählen von sich und dem, was sie sind. Und von so vielem mehr. Sie umarmen und halten sich, lauschen am Bauch der Anderen, sitzen in einem Boot, die Weiße tanzt ihre Klage hinaus und ihre Verzweiflung, sie spiegeln sich, sehen sich in der Anderen. Fotos eines schwarzen und eines weißen Mädchens, vom schwarzen und weißen Vätern und Großvätern, die sich bald mischen und gemeinsam projiziert werden. Wie sich die Leben doch auch ähneln. Denn beider Großväter haben sie zum Tanz gebracht. Den sie gemeinsam an der Stange üben.
Germaine singt „Que sera“, laut. Die Zukunft ist ungewiss. Während die Schwarze sich in ihrem Zuber den Staub der Geschichte von den Füßen und den (blutgetränkten) Boden um sie herum wäscht, versucht die Weiße, dem ihren Waschtrog sich zu nähern, bleibt ohne Reinigung. Also mit ihrer Schuld. Ganz dicht beieinander tanzen sie, trennen sich, gehen Hand in Hand ein kleines Stück. Jede tanzt ihren eigenen Weg. Die Hand wieder auf der Schulter der Anderen. In die Zukunft weist das vieldeutige Schlussbild. Beide Frauen sitzen an ihrem Zuber, mit den langen Stäben in der Hand, und die Weiße stampft mit einem Fuß einen Rhythmus in den Boden.
Germaine Acogny & Malou Airaudo: „COMMON GROUND[S]“ (c) Roswitha Chesher
Mit ihrer individuellen, privaten Perspektive beschreiben diesen beiden großen, tief empfindenden, hellwachen, postkolional geprägten Künstlerinnen-Persönlichkeiten nicht nur eine Begegnung von zwei Tänzerinnen-Leben, sondern, in einer zweiten Ebene, die zweier Kontinente und deren Geschichte(n), Gegenwart und möglichen gemeinsamen Zukunft. Sie sind sich ihrer jeweiligen Verantwortung nicht nur bewusst, sie leben diese im Sinne eines universellen, einenden Humanismus. Ihre zärtlich-verständnisvolle Weisheit und die Poesie dieser Arbeit berühren ungemein.
Pina Bausch: „Das Frühlingsopfer“
Die 1975 entstandene Choreografie ist eine herausragende unter den zahlreichen Interpretationen der 1913 uraufgeführten Ballett-Musik von Igor Strawinski. Pina Bausch hat nicht versucht, eine andere oder neue Geschichte zu erzählen. Ihre Choreografie transformiert die Musik Strawinski’s in Bewegung. Jeder Akkord, jede horizontale Linie, jede Note der Komposition wird auf ihren emotionalen Gehalt hin untersucht und ins Physische übersetzt. „Wie würdest du tanzen, wenn du wüsstest, dass du sterben wirst?“, war eine ihrer Fragen an ihre Tänzer*innen. Das Ergebnis, eine Choreografie von ungeheurer Intensität, schrieb Tanzgeschichte.
Bereits Maurice Béjart, der 1977 gemeinsam mit Léopold Sédar Senghor „Mudra Afrique“, eine panafrikanische zeitgenössische Tanzschule im senegalesischen Dakar gegründet hatte, erkannte die starke Verbindung des mythologischen Frühlingsopfers zu Afrika (die Schließung von Mudra 1982 verhinderte damals eine Umsetzung mit afrikanischen Tänzer*innen). Erst auf Anregung von Salomon Bausch, dem Vorstandsvorsitzenden der Pina-Bausch-Fondation, wurden, ausgehend von der „École des Sables“, letztlich 38 Tänzer*innen aus 14 afrikanischen Ländern gecastet.
Pina Bausch: Das Frühlingsopfer (c) Maarten Vanden Abeele (1)Pina Bausch: Das Frühlingsopfer (c) Maarten Vanden Abeele
32 von ihnen tanzen nun die Original-Choreografie von Pina Bausch, einstudiert von Tänzer*innen, die einstmals selbst mit ihr gearbeitet haben, erstmals überhaupt von afrikanischen Künstler*innen interpretiert. In den Torf, mit dem die Bühne gänzlich bedeckt ist, stampfen sie die Kraft der Musik, schreien mit ihren Körpern die Angst, Trauer und Schuld, die Frage nach dem Sinn der Opferung, geben dem Nicht Entrinnen-Können, dem Ausgeliefertsein an den Ritus ein physisches Echo. Der Dramatik der Musik verleihen sie eine Gestalt, die spürbar beeinflusst ist nicht nur durch ihre „eben afrikanische“ Herkunft, sondern insbesondere durch die Vielzahl an traditionellen wie zeitgenössischen tänzerischen Wurzeln, die die Einzelnen mit- und einbringen.
Die äußere wie die innere Dramatik, die der Handlung wie die der Handelnden, zeigt sich mit einer Wucht, die keinen kalt lassen kann. Das geradezu Animalische der tief empfundenen Emotionen, die leidenschaftliche, hochenergetische Expressivität jeder und jedes Einzelnen, die Erdigkeit und Ehrlichkeit, sehr selten wird ein Tanz so präsentiert, und die physische und emotionale Gewalt, mit der die Gruppe und aus dieser nochmals herausragend die Auserwählte agieren, ist schlicht überwältigend. Spannung von der ersten bis zur letzten Sekunde. Die 1000 im Saal dankten mit stehenden Ovationen.
Pina Bausch: Das Frühlingsopfer (c) Maarten Vanden Abeele
In diesem Stück manifestiert sich der Geist von Mudra und „École des Sables“, Afrika im Tanz zu einen. Der Dialog zwischen verschiedenen tänzerischen Ausdrucksformen mag Vor- und Sinnbild sein für einen ganzen Planeten.
So wie die Begegnung zwischen zwei reifen Frauen, schwarz und weiß, zwischen zwei Kontinenten und vielen Menschen mit unterschiedlichsten Herkünften und künstlerischen Wurzeln mit dem Werk von Pina Bausch, um wieder neue Facetten, ja Dimensionen zu erschließen und sichtbar zu machen. „…, denn Tanz ist Leben!“, sagte Germaine Acogny.
Rando Hannemann