ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Pina Bausch . Meryl Tankard mit „Kontakthof – Echoes of ’78“: Einige Stühle bleiben leer
47 Jahre liegen zwischen der Uraufführung des Originals und der Österreichischen Erstaufführung der bearbeiteten Version. Für 21 PerformerInnen kreiert und in dieser Besetzung weltweit hunderte Male aufgeführt, von vielen Kompanien aufgenommen und für diverse Lokationen, verschiedene Professionalitäts-Niveaus und Altersgruppen adaptiert, spüren hier neun TänzerInnen der Originalbesetzung von 1978 den durch die Jahrzehnte in ihren Körpern und Seelen hallenden Echos von „Kontakthof“ nach.
Pina Bausch . Meryl Tankard: „Kontakthof – Echoes of ’78“, im Bild: Meryl Tankard (c) Oliver Look
Das Stück ist nicht nur eines der wichtigsten im Œuvre der 2009 verstorbenen Ikone des zeitgenössischen Tanzes Pina Bausch. Sie leistete mit (unter anderem) diesem Stück einen wegweisenden Beitrag zur Schaffung einer neuen Kunstform. Das Tanztheater, eine Verschmelzung von Tanz mit theatralen Elementen, ermöglichte ihr über den Bruch mit dem klassischen Tanz und hierarchischen Strukturen und Arbeitsweisen eine neue Qualität bei der Annäherung an Allzu-Menschliches.
Die in diesem Stück dargestellten menschlichen Beziehungen bewegen sich zwischen der Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebe und einer der Realität abgeschauten physischen und psychischen Rohheit und Brutalität. Macht ist ein gewichtiger Aspekt. Die Unfähigkeit der Protagonisten zu lieben schockiert. Gepackt in ein Setting aus Dating-Location, süßlichen, romantisierenden Schlagern, entstanden und populär gewesen vor allem in der NS-Zeit, und dem ins Rampenlicht geholten Verborgenen, bislang sorgsam geschützt durch die verlogenen Fassaden des Privaten, offenbart sie einen bitteren, beißenden Zynismus im (damaligen) Gesellschaftsmodell. Weil es schon vor dem so war und heute noch ist, wird das Original zu einem Werk zeitloser Tanztheater-Kunst.
Pina Bausch . Meryl Tankard: „Kontakthof – Echoes of ’78“ (c) Ursula Kaufmann
Das Original-Bühnenbild ihres im Alter von 35 Jahren verstorbenen künstlerischen und privaten Partners Rolf Borzik erzeugt eine Ballsaal-Situation mit Stuhlreihen und einem Klavier an der Wand. Zwölf der Stühle bleiben nun leer. Teils bereit verstorben, teils körperlich nicht mehr in der Lage zu performen oder schlicht nicht mehr bereit dazu erzeugen diese fehlenden Mitglieder des einstigen Ensembles schmerzende Leerstellen, die durch Video-Projektionen von Aufnahmen, die Borzik 1978 aus dem Auditorium heraus machte, sichtbar gemacht werden. Die jüngeren Alter Egos der neun sind klar erkennbar.
Aufwändig ausgewählt und zusammengestellt von Meryl Tankard (Konzept und Inszenierung), Choreografin und ehemalige Tänzerin im Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, entstand so das Filmmaterial für ein deutlich gerafftes „Echo“ (einer Festspielhaus-Koproduktion). Aus über drei Stunden wurden zwei mit Pause. Duktus und Intensität des Originals strahlen trotzdem aus den im ersten Teil auf eine transparente Leinwand vor der Bühne (wie riesige Geister schweben die tanzenden Jungen über der Szenerie), im zweiten auf eine rückwärtige Video-Leinwand projizierten Aufnahmen. Die Originalszenen werden, den das Original verfremdenden Winkel der Aufnahmen und die personellen Lücken berücksichtigend, auf der Bühne nachgestellt. Zuweilen aber läuft der (Schwarz-Weiß-) Film allein.
Pina Bausch . Meryl Tankard: „Kontakthof – Echoes of ’78“ (c) Ursula Kaufmann
Tankart zieht somit weitere Ebenen ein in ein eh schon bedeutungsgeladenes Stück. Für jeden Einzelnen geht auch um eine Bilanz des eigenen Lebens, um die Gegenüberstellung von Sichtweisen und Entwicklungsstati damals und heute. Eine sehr berührende Szene zeigen sie am Ende des ersten Teils. Aus den Dating-Konversationen im Original macht Tankart eine Vorstellungsrunde. Jede(r) der neun PerformerInnen gibt nicht nur Name und Alter an. Es ist ein Resümee am Ende ihres Lebens. Unerfüllte und nun nicht mehr erfüllbare Wünsche (Kinder etwa), enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen, Verluste, Versäumnisse, verpasstes Glück und Bedauern, aber auch die eheliche Beziehung von zwei Männern werden mit Mut, Wehmut und Humor bekannt.
Sie stellen Ideal und Wirklichkeit gegenüber. Nicht nur in Bezug auf menschliche Beziehungen. Auch der Verlust der einstigen Jugend, von Fähigkeiten und von Menschen lässt sie singen: „Bring back my Bonny to me!“ Sie kokettieren mit ihrer jugendlichen Kraft und Schönheit, ihrer im Alter strahlenden Erfahrung, Reife und Wehmut, mit den auf der Leinwand nur noch als Chimäre anwesenden KollegInnen von einst, mit ihrer einstigen und jetzigen Verlegenheit und sogar mit dem Tod.
Ebenso gehört dazu das Altern mit seinen üblichen Begleiteffekten wie der Abnahme der einstigen körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, der Veränderung der Bewertung von Vergangenem und Zukunft, der zunehmenden Beschäftigung mit dem Sterben und dem Tod und andererseits der Verlagerung des Lebens nach innen. Aus Erfahrungen und Erinnerungen braut die Seele einen stärkenden Trunk gegen die zunehmende Verletzlichkeit.
Pina Bausch . Meryl Tankard: „Kontakthof – Echoes of ’78“ © Evangelos Rodoulis
Das Stück erlaubt zuweilen einen Wandel in der Bedeutung der Szenen. Was damals unerhört war, ist nun, in den Augen weit erfahrenerer Menschen und Künstler und nach fast 50 Jahren gesellschaftlicher und technologischer Entwicklung einer gewissen Abgeklärtheit oder Gewöhnung anheimgegeben. Und die inzwischen etablierte Sensibilität gegenüber tradierten Formen von Hierarchien, Unterdrückung und Gewalt lässt manche Szene in sehr anders gefärbtem Licht erscheinen. Eine Frau bricht aus aus der Prozession der ideologischen Opfer. Ihr weiblicher Protest schreibt die schon damals laut gewordenen Rufe nach Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und dem Bruch mit Jahrtausende alten Normierungen, das Feministische in diesem Stück also, fort.
Die aus einer im Entstehungsprozess als Trost spendend intendierte Szene, in der viele Männer einer Frau jedes Körperteil begrabschen, wurde zur Darstellung der entwürdigenden, gewaltvollen Objektifizierung des weiblichen Körpers. Heute, nach „Me too“, ist weiblicher Widerstand gegen das Fortleben überholter Geschlechter-Modelle, gegen Diskriminierung und vor allem gegen tief verwurzelte patriarchale Strukturen opportun.
Pina Bausch . Meryl Tankard: „Kontakthof – Echoes of ’78“ (c) Uwe Stratmann
Der Faktor Zeit spielt eine weitere wichtige Rolle. Die Jahrzehnte zwischen der Uraufführung des Originals und heute markieren ein ganzes Leben. Nicht nur das der TänzerInnen, auch unseres. Sie zeigen, dass es immer noch irgendwie weiter geht. Nicht nur, weil es das muss. Sie stemmen den sichtlich enger werdenden Grenzen des eigenen Körpers ihren Lebensmut entgegen, die Unmengen an Erfahrung, so viel Wissen und ihre einer Gelassenheit entsprungenen Weisheit. Sie gehen den Weg ihres Lebens zwischen Bitterkeit, Melancholie, Traurigkeit und Dankbarkeit weiter. So lange und so gut es eben noch geht. Bis es nicht mehr geht.
„Kontakthof – Echoes of ’78“, gleichzeitig Hommage und Weiterentwicklung, ist ein hoch komplexes, zutiefst menschliches, ein- und mitfühlendes, ungemein berührendes und bewegendes Werk, vom voll besetzten Festspielhaus mit lang anhaltenden Standing Ovations gefeiert.
Pina Bausch . Meryl Tankard mit „Kontakthof – Echoes of ’78“ am 11.10.2025 im Festspielhaus St. Pölten.
Rando Hannemann