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ST: PÖLTEN/ Festspielhaus: Oona Doherty mit „NAVY BLUE“

13.11.2022 | Ballett/Performance

St. Pölten/ Festspielhaus: Oona Doherty mit „Navy Blue“ am 11.11.2022

Das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 c-Moll op. 18 widmete der russische Komponist Sergei Rachmaninoff (1873-1943), der nach der desaströsen Uraufführung seiner Symphonie Nr. 1 im Jahre 1897 eine vier Jahre währende Depression durchlebte, im Jahre 1901 dem russischen Arzt und Psychotherapeuten Nikolai Dahl, der Rachmaninoff zuvor mittels einer drei Monate dauernden Hypnotherapie heilte.

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Oona Doherty: „Navy Blue“ (c) Dajana Lothert

Für die 1986 in London geborene und 10 Jahre später mit ihren Eltern nach Belfast übersiedelte Tänzerin und Choreografin Oona Doherty, die wegen Lockdowns und diverser Krisen dieser Welt in Einsamkeit und Depression versank, waren die TänzerInnen der Kompanie, mit denen sie Ideen entwickelte und die ihr wieder Liebe gaben (so Doherty selbst), ihr Nikolai Dahl. Das Ergebnis, die mit Symboliken vollgepackte Tanz-Performance „Navy Blue“, uraufgeführt im August 2022 bei Kampnagel Hamburg, spielt in ihrem ersten Teil zu Rachmaninoffs Klavierkonzert Nr. 2 mit dem Zustand der Menschen, bevor es im zweiten Teil zu elektronischer Musik von Jamie xx aktionistisch-aktivistisch kracht.

Die Arbeiterklasse als das Milieu ihrer Eltern und als einer der Ursprünge ihres Bewegungsmaterials wird in ihren Blaumännern einerseits und der Perspektivlosigkeit der sozialen Unterschicht andererseits zur dominierenden ästhetischen Kraft in diesem Stück. Das Titel gebende Marine-Blau als Farbe eröffnet einen Reigen an Assoziationen. Die Blue Jeans, der Blaumann und das Königs-Blau, das Meer und mit ihm seit Jahren die Bilder ertrunkener Flüchtlinge, in der Kunst unter Vielem Yves Klein und Blaue Pferde, die Minuten vor und nach der Nacht, der Blues, Melancholie und Depression. Passend also auch Rachmaninoffs Opus 18. Und sie setzt noch einen drauf. Für den ersten Teil ließ sich Oonna Doherty inspirieren von der äußerst erfolgreichen südkoreanischen Netflix-Serie „Squid Game“ aus 2021, in der die Teilnehmer eines brutalen Spiels entweder verlieren und sofort erschossen werden oder am Ende, als alleiniger Sieger, sehr viel Geld (33 Mio. Euro) gewinnen. Ausweglosigkeit als Programm.

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Oona Doherty: „Navy Blue“ (c) Sinje Hasheider

Auf der Bühne, die links und rechts von unüblich weit in den sichtbaren Bereich gerückten Scheinwerfer-Gerüsten flankiert wird, als würden sie Frei-Räume und Handlungsmöglichkeiten beschränken wollen, stehen die zwölf TänzerInnen in Reihe, einheitlich in den Blaumann gekleidet. Für die Universalität der Themen des Stückes stehen die aus so verschiedenen Kulturkreisen Stammenden. Den ersten Teil gestaltet Doherty dann auch, wie „Squid Game“ sie geheißen. Nach und nach knallt ein Schuss ins Klavierkonzert, und jemand fällt um.

Die Mitglieder der Kompanie verhehlen ihre klassische Ausbildung nicht. Das zeitgenössische, etwas grobmotorisch-proletarische Material der Doherty jedoch behält die Oberhand. Ein Aufrichten aus gebücktem Gang, solidarische Umarmungen, das langsame Sinken eines hochgereckten Armes, das Suchen nach Erlösung im Himmel, die enger werdenden Armkreise und schließlich ein Zeigen auf sich selbst, die entschlossen empor gestreckte Faust, alles erzählt nebenbei eine Geschichte von Selbsterkenntnis und -ermächtigung. Der erste Schuss kracht ins Ende des ersten Satzes.

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Oona Doherty: „Navy Blue“ (c) Sinje Hasheider

 

Der zweite Satz, Rachmaninoffs Musik ist ruhiger, harmonischer, beinahe romantisierend, wird zu einem Gemetzel. Unruhe, wildes Gerenne, das Zerren an der Kreis-Gemeinschaft zerstört diese, jeder kämpft für sich, das ängstliche Zusammenrücken der Verbliebenen, nichts scheint sie zu retten. Die letzte schüttelt noch, die vielen Toten um sich herum betrachtend, entsetzt den Kopf, bevor auch sie fällt.

Die Toten liegen zu Beginn des zweiten Teils in meerblauen Licht-Pfützen, fast wie an den Strand geschwemmte Flüchtlingsleichen oder leblosen Kontinenten gleich. Der elektronische Sound rauscht wie die Wellen des Meeres. Vorn in Reihe nun die zwölf, metallisch dröhnt der Sound. Text wird eingespielt. Oona Doherty und Bush Moukarzel, er studierte Psychoanalyse, ist Schauspieler, Autor, Regisseur und Leiter der irischen Theatergruppe Dead Centre, formulieren in poetischen Worten die emotionalen und gedanklichen Urgründe, die Oona Doherty zu diesem Stück geradezu zwangen. Der Text erzählt von der Dankbarkeit fürs Kommen nach viereinhalb Milliarden Jahren Weg, von der Bedeutungslosigkeit der zwei blassblauen Punkte Oona und Erde, vom Verbunden- und Alles-Sein, von der gemeinsamen Herkunft jedes Schöpfers und jedes Zerstörers (deren Namensliste ist lang und aktuell), von Grausamkeiten und der Gier nach Macht, von Attentaten, Morden, Kriegen, von ihrer privaten wie künstlerischen Tänzerinnen-Mühsal, von den immensen Kosten dieser Produktion und der Frage nach dem Sinn des Ganzen, den Selbstzweifeln und der Selbst-Vergewisserung, von der Bedeutungslosigkeit des Alles-was-ist und der Bedeutung der Unwichtigkeit, von der Verantwortung.

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Oona Doherty: „Navy Blue“ (c) Sinje Hasheider

Die Geister, die alledem zu Grunde liegen und die genährt werden mit der Zeit und wachsen, heißen namentlich Gerechtigkeit und Verantwortung. Am Ende, in einem Tanz, für einige ohne Blaumann-Oberteil nun, bricht sich die Wut frei in die aggressive Geste, wird zu verzweifeltem, mutigem Aufbegehren. Da erst zeigt sich die ganze emotionale Kraft der Oona Doherty, die angesichts der vielen, tatsächlich auch die Europäer erreichenden Krisen auf diesem Planeten weit geöffnete Tore in den Menschen findet und durch diese tief, bis an die Herzen, tauchen kann, dorthin, wo Ängste, Zorn und Mitgefühl wohnen. Getrieben von der Überzeugung, dass wir im Stande sind, die Welt zu ändern, und der Hoffnung, dass es auch gelingen kann, wachsen in „Navy Blue“ Authentizität, Expressivität und emotionale Vehemenz dem wahrlich aufwühlenden Ende dieses Stückes entgegen.

Zumindest der erste Teil der Arbeit bleibt rätselhaft ohne die Kenntnis der Inspirationsquelle „Squid Game“ und ohne wenigstens ein Grundwissen um deren Sujet. Mit diesem Wissen erschließen sich nicht nur Zusammenhänge, sondern vor Allem Vieles mehr von der metaphorischen Komplexität von „Navy Blue“.

Rando Hannemann

 

 

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