ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Michèle Anne De Mey mit „Sinfonia Eroïca“
35 Jahre nach seiner Uraufführung, nach 2006 in 2022 das zweite Mal überarbeitet und nun mit neun statt wie in der Ur-Version sieben TänzerInnen aufgeführt ist „Sinfonia Eroïca“ der belgischen Choreografin Michèle Anne De Mey ein immer noch frisches Werk. Das Tonkünstler-Orchester unter der Leitung von Ayrton Desimpelaere spielt Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 3 („Sinfonia Eroïca“) und Mozarts Ouvertüre aus „Bastien und Bastienne“ live. Nur Jimi Hendrix‚ „Foxy Lady“ kommt vom Band …
Michele Anne De Mey – Sinfonia Eroica ©Julien Lambert
Beethoven widmete seine 1802/03 geschriebene 3. Symphonie zunächst den Freiheitsgedanken der Französischen Revolution und Napoleon. Dessen Selbst-Krönung zum Kaiser allerdings war dem Komponisten Anlass für die Rücknahme der Zueignung. Das revolutionäre Werk zählt zu den beliebtesten des Komponisten. Das kühn und kraftvoll gefeierte Heldische darin, Teil dessen ist auch der Trauermarsch im 2. Satz als Analogie zur französischen Toten-Verehrung, inspirierte die Choreografin zu ihrem wegweisenden Tanzstück.
Mozarts im Alter von zwölf Jahren komponiertes Singspiel über eine geprüfte, schließlich glückende Liebesbeziehung ist ein passender Plot für die von den neun TänzerInnen gezeigten Jugendlieben mit ihren Neckereien, Annäherungen, Konflikten, Versöhnungen und einem ersten Kuss. Und den zelebrieren sie laut schmatzend.
Die Antwort auf die für Michèle Anne De Mey zentrale Frage dieses Stückes „Was macht mich zum Helden vor mir selbst und vor dem Anderen?“ auf einem Spielplatz zu suchen, erscheint angesichts der heute von sozialen Medien, der virtuellen Welt also, dominierten Wirklichkeit vor allem junger Menschen anachronistisch. Vielleicht aber ist gerade die Entkleidung von allem, was den Menschen wegführt von sich selbst, ein nicht nur geschickter, sondern notwendiger Weg, um auf Kernaspekte der menschlichen Existenz zu treffen.
Michele Anne De Mey – Sinfonia Eroica (im Bild Cassandre Cantillon) ©Julien Lambert
Dieser antiquierte Schauplatz für die Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der eigenen Positionierung in der realen und sozialen Welt ist die Projektion auf eine konsequent physische Wirklichkeit. Die Mechanismen sind verwandt mit denen der digitalen, die Strukturen sind die gleichen. Wem das Grundgefühl „Ich bin gut, wie ich bin! Und es braucht keine Begründung dafür.“ nicht mitgegeben wurde von in erster Linie seinem Elternhaus, der wird Gründe für sein Gut-Sein etablieren wollen. Sein Leben lang.
Die Akzeptanz seiner selbst als Voraussetzung für die Akzeptanz auch seiner Umwelt und den untrennbaren Zusammenhang dieser zwei Faktoren stellen die an dieser hier das zehnte Mal aufgeführten Neubearbeitung von 2022 beteiligten TänzerInnen deutlich heraus. Sie betrachten es aus einer Fülle von unterschiedlichen Perspektiven. Mit jugendlicher Unbekümmertheit und Neugier gehen sie auf große Themen zu.
In dieser sich auf einem Spielplatz (Bühne: Michel Thuns, Licht: Simon Siegmann) zusammenfindenden Gruppe von fünf Frauen und vier Männern entwickeln sich Beziehungsgeflechte, zu sich selbst und zur Umwelt, auf unterschiedlichen Ebenen. Allein das anfangs erst einmal zu spannende, hoch über dem Boden zwischen zwei Trägern diagonal über die Bühne laufende Seil wird zur in großer Höhe startenden Rutschbahn und damit den Draufgängern ein willkommenes Spielzeug, den Vorsichtigeren eine Herausforderung.
Michele Anne De Mey – Sinfonia Eroica ©Julien Lambert
Nur dieses Seil schon ermöglicht die Konfrontation mit seinen eigenen Grenzen, erlaubt spielerische Zweisamkeit und Rückzug. Eine Tänzerin verweilt zum Beispiel lange allein oben auf dem Seil sitzend, während unter ihr in eigener Bewegungssprache ausgedrückte Individualität in parallelen Soli getanzt wird. Ein Paar schiebt sich gegenseitig die schiefe Ebene hinauf, um dann rutschen zu können. Und andere erklimmen den Pfeiler und kapitulieren vor der Höhe.
Die Choreografie schafft viele, schnell wechselnde Situationen in immer wieder neuen Konstellationen. Gruppen-, Paar- und Solo-Aktionen fließen nacheinander und gleichzeitig über die Bühne. Die sich in diesem Areal Begegnenden plaudern, scherzen, spielen, schäkern, necken sich und tanzen. Die Zwanglosigkeit des Beisammenseins mündet viele Male überraschend in Tanz, variantenreich synchron und schnell wieder aufgelöst. Faszinierend sind die Präzision dieser aus der Freiheit plötzlich wachsenden Ordnung und die scheinbare Leichtigkeit, mit der die TänzerInnen diese äußerst anspruchsvolle, vollständig durchchoreografierte, kompositorisch sehr komplexe, spannungsgeladene, von unsichtbarem, höchst exaktem Timing getragene Arbeit performen. Ästhetisch liegt das Stück in der Nähe der Arbeiten von Pina Bausch.
Michele Anne De Mey – Sinfonia Eroica ©Julien Lambert
Der Musik folgt der Tanz nicht immer direkt. Oft aber werden der tänzerische Charakter der Kompositionen, deren Rhythmik und die MusikerInnen, öfter suchen die auf der Bühne direkten Kontakt zu denen im Orchestergraben, zu Kollaborateuren. Die Bandbreite der Themen und die Dichte von deren so beiläufiger Repräsentation auf der Bühne ist gewaltig. Nähe und Distanz, Liebe und Erotik, Begehren („Foxy Lady“ von Jimi Hendrix wird kurz angespielt), Untreue, emotionale Verunsicherung und Instabilität, Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Anerkennung, das freudvolle Erleben der Gemeinschaft, das Erwachsenwerden (einige Mädchen emanzipieren sich, machen sich mit hochhackigen Schuhen zur Frau), die Erforschung dessen, was männlich und weiblich bedeuten kann, Harmonie und Konflikt, Freiheit und Struktur, Aufmerksamkeit, Fürsorge, Beistand und Zärtlichkeit.
Das Bewegungsmaterial der wunderbaren TänzerInnen speist sich aus Klassischem, Zeitgenössischem, Urban, Akrobatik, Latein (in einer amüsanten Szene üben sie Paso Doble, die Kostüme (von Isabelle Lhoas und Frédéric Denis) hierfür vom sportiven Casual in glitzernde Festlichkeit gewechselt), Tango und Charleston. In mehreren Soli zeigt Cassandre Cantillon ihre ganz besondere Expressivität und Emotionalität.
Michele Anne De Mey – Sinfonia Eroica ©Julien Lambert
Die Wasserschlacht am Ende, sie nässten zuvor den Bühnenboden mit vielen Eimern Wasser, wird zum freudvollen Spiel mit der so entstandenen Rutschbahn. Mit wunderschönen Posen gleiten sie über die Bühne. Ihr Spaß dabei ist ansteckend. Sie finden sich zu Paaren zusammen. Zum Schluss aber, nachdem sie ihre innere Balance auf einem Bein stehend gefunden hat, überwindet eine Tänzerin ihre Angst und rutscht am Seil hängend Richtung Hintertür, durch die alle anderen bereits abgegangen waren. Sie braucht ihr Heldentum nur für sich allein.
„Sinfonia Eroïca“ ist originell, lebendig, humorvoll, spielerisch, jugendlich, unschuldig, naiv. Seine Helden überwinden ihre Angst vor Höhe, physischer und emotionaler Verletzung, Verletzbarkeit, Geringschätzung und Geringwertigkeit, Lächerlichkeit, Alleinsein, Einsamkeit, ausgeschlossen Sein und Werden, sozialer und gesellschaftlicher Ächtung, Diffamierung und Diskriminierung. Und ihre Angst zu scheitern. Das Stück differenziert und verbindet gleicher Maßen die persönlich-individuellen und die sozialen Aspekte.
Das Heldentum als Synonym für eine Großartigkeit, die kleine Schwächen oder Fehler (sofern man in diesen Kategorien überhaupt denkt) übersehen oder vergessen lässt, wird zum (nicht ausschließlichen) Maßstab für das psychische Wohlbefinden. Das fördern die neun, nur mit sich allein umgehend oder agierend als Teil einer Gemeinschaft. Und diese ist eine Werte-Gemeinschaft, geprägt von Respekt und Wertschätzung, Toleranz, Empathie und Achtsamkeit.
Michele Anne De Mey – Sinfonia Eroica ©Julien Lambert
Dieses großartige, mit Standing Ovations bedachte Werk ist eine in Tanz und Musik gegossene Utopie, ewig und überall gültig als Leitbild für strukturell und ihrem Wertekanon nach fehlentwickelte Gesellschaften. Es öffnet Räume für das Einbringen der individuellen Prägungen durch Kulturen, Ausbildungen, Erfahrungen, Interessen und des jeweiligen persönlichen und künstlerischen Entwicklungs-Niveaus. Und für Wachstums- und Reifungs-Prozesse.
Michèle Anne De Mey . Tonkünstler-Orchester . Ayrton Desimpelaere mit „Sinfonia Eroïca“ am 29.03.2025 im Festspielhaus St. Pölten.
Rando Hannemann