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ST.PÖLTEN/ Festspielhaus: Marcos Morau und CCN/Aterballetto mit „Notte Morricone“

26.11.2024 | Ballett/Performance

ST.PÖLTEN/ Festspielhaus: Marcos Morau und CCN/Aterballetto mit „Notte Morricone“

Als Musik einer Epoche und Sound seiner Kindheit beschreibt Marcos Morau das Werk des 2020 verstorbenen italienischen Komponisten. In „Notte Morricone“, einer Auftragsarbeit für die italienische Tanzkompanie CCN/Aterballetto, führt er das Publikum in das Dahinter und Darunter der so vielen weltbekannten Melodien. Orte der Entstehung und Rezeption werden ebenso wie die Intentionen, inneren Antriebe und Kämpfe des Schöpfers zu einem großartigen Tanzstück verwoben.

Der 1982 im spanischen Valencia geborene Choreograf Marcos Morau studierte Fotografie, Choreografie, Theatertheorie und Dramaturgie, bevor er 2004 seine Kompanie La Veronal gründete, mit der er bis dato in über 30 Ländern weltweit gastierte. Zudem wurde Morau schnell zu einem gefragten Gastchoreografen an den großen Häusern des internationalen Tanzschaffens. Bereits vielfach geehrt sucht Morau, der selbst nie Tänzer gewesen ist, nach neuen Wegen des künstlerischen Ausdrucks, indem er Oper, Tanz, Theater, Film, Fotografie und andere Kunstformen mit immer wieder überraschender Kreativität und Innovationskraft eng miteinander verwebt.

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Marcos Morau: „Notte Morricone“ (c) Andrea Mafrica

Ein wundervolles Beispiel hierfür ist die im August 2024 ourdoor und erst vier Wochen vor dieser Aufführung in St. Pölten indoor in Rom uraufgeführten Arbeit „Notte Morricone“. Diese Österreich-Premiere allerdings ist auch das erste Mal, dass das Stück mit einem live spielenden Orchester performt wurde. Unter der musikalischen Leitung des italienischen Komponisten, Dirigenten und aktiven Förderers klassischer und zeitgenössischer Musik für Blasinstrumente Maurizio Billi brilliert das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich. Dessen Musik, Harmonika, Panflöte, elektronischer Sound und der Gesang der italienischen Sopranistin Federica Caseti Balucani fügen sich zu einem ausgewogenen, in seinen Details fein abgestimmten Ganzen, ohne Brüche zwischen Live und Konserve.

Allein die für dieses Tanzstück zusammengestellte Musik Ennio Morricones erzeugt eine Fülle von Bildern im Kopf, ruft Erinnerungen wach an große Kino- und/oder Konzert-Erlebnisse und ist mit ihrer emotionalen Wirkung ein Teil der Erzählungen dieses Abends. Ob Italo-Western, allen voran natürlich „Spiel mir das Lied vom Tod“ von Sergio Leone aus 1968, Abenteuer- und Kriminal-Filme, Dramen oder erotische Geschichten, dazu solistische und Ensemble-Kammermusik, die Listen seiner Werke wie die seiner Auszeichnungen und Ehrungen sind schier endlos, das Spektrum außergewöhnlich breit.

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Marcos Morau: „Notte Morricone“ (c) Christophe Bernard

Eigentlich wollte er anfangs keine Filmmusik komponieren. Am Ende sind es mehr als 500 Filmmusiken geworden. Mit seiner Musik verhalf Morricone diesen Film-Kunstwerken zu Weltruhm. Die Dankesrede anlässlich der (späten) Ehrung mit dem Oskar für sein Lebenswerk 2007 ist ein Teil der deutsch übertitelten Textbeiträge dieses Stückes. Neben Original-Aufnahmen von Morricone selbst sind Texte von Carmina S. Belda zu hören. Die Worte vermitteln einen Einblick in die komplexe Gedanken- und Gefühlswelt des musikalischen Genies und großen Menschen Ennio Morricone, dessen Empathie von einzigartiger Dimension ihm Werkzeug war für letztlich in Klang gegossene Humanität.

Marcos Morau geht in seiner „Notte Morricone“ über ein vertanztes Medley berühmter Melodien hinaus. Ihn interessieren der Mensch Morricone, die Umstände der Entstehung seiner Werke und die ästhetische und spirituelle Dimension seiner Musik. Dazu taucht er ein in eine gewöhnliche Nacht im Leben des großen Komponisten, in seinen Schaffensdrang, seine Produktivität, seinen Perfektionismus, seine Fragilität und Einsamkeit und seine immense Furcht vor Vorhersagbarkeit. Die Nacht als ein Ort für Träume, Fantasien, Inspiration und Kreation, aber auch für Zweifel, Ängste und die Regentschaft des Verborgenen und Unbewussten, wird zum Set eines filmähnlich szenischen, die Grenzen der Genres verwischenden, bildgewaltigen Plots.

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Marcos Morau: „Notte Morricone“ (c) Christophe Bernard

In einem Bühnenbild von Marc Salicrú, auch das Lichtdesign stammt von ihm, erleben wir das Arbeitszimmer – wie das Aufblitzen von Gedanken flackern zwei Neonröhren an einer riesigen Wand voller musikalischer Notizen, in Eile hingekritzelt, um sie dem Vergessen zu entreißen – ein Tonstudio und einen Proberaum, in denen sich die inneren Dramen des Komponisten ereignen. Dann auch Andeutungen cinematografischer Umsetzungen, auf die Wand eines Kinosaals gehaucht. Objekte werden zu Ko-Performern. Ein Metronom klackt unerbittlich, riesige Scheinwerfer und Stühle auf Rädern mit Musikern darauf werden über die Bühne gerollt. Welche Instrumentierung ist nun die richtige?

Morricones Leidenschaft für das Schachspiel, die Verbindung von Mathematik und Musik sowie seine musikalischen Wurzeln als Trompeter, sie spielen das charakteristische Trompetensolo aus „For a Few Dollars More“, zeichnet die Choreografie mit liebevollem Blick. Und wenn ein Draht-Esel einen Planwagen aus dem wilden Westen über die Bühne zieht, der Flügel zu einem Quell von Überraschungen wird oder die Notenblätter durch die Lüfte wirbeln, gesellt sich zum Staunen über Bilder und Tanz noch ein Schmunzeln.

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Marcos Morau: „Notte Morricone“ (c) Christophe Bernard

Der Kunstgriff der Vervielfältigung der Person Morricones, jede(r) der gleich gekleideten TänzerInnen ist er respektive sein alter ego, zudem werden wie er aussehende Puppen zu Akteuren belebt, spricht von den vielen inneren Stimmen, die zuweilen auch zu äußeren werden, wenn die TänzerInnen selbst reden oder singen, die sich im Schaffensprozess zu Wort melden und miteinander ringen.

Schier erdrückt von den eigenen Erwartungshaltungen und Ansprüchen an seine Musik grub sich Morricone durch Schalen und Schichten in die Tiefen der Menschen, um das, was man (im Film) nicht sieht, hör- und damit spürbar zu machen. Die Choreografie inszeniert das Ringen des Komponisten um größtmögliche Wahrhaftigkeit im musikalischen Ausdruck und die damit einhergehenden Zweifel, inneren Konflikte und im Dunkel der Nacht ausgetragenen seelischen Gefechte eindrücklich.

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Marcos Morau: „Notte Morricone“ (c) Christophe Bernard

Das CCN/Aterballetto meistert die Herausforderungen souverän. Wie kaum jemand vermag Morau der Kompanie eine Geschlossenheit zu verleihen, die, natürlich, getragen wird von der tänzerischen Klasse eines/einer jeden Einzelnen. Leistungsdichte und tänzerisches Niveau in dieser zu den Führenden in Europa zählenden Kompanie sind enorm. Eine Bildsprache an der Grenze zum Surrealen und scharfkantiges Bewegungsmaterial, äußerst präzise getanzt in den seltenen solistischen Intermezzi, Duetten und den vielen Ensemble-Szenen, in denen die Gruppe agiert wie ein sich dann wieder aufspaltender Organismus, vermitteln einen lebendigen Eindruck vom Seelenleben des MaestroST.Dass Morricone seine Filmmusik in Konzerten weltweit präsentierte, zeugt vom Emanzipationsprozess der Kompositionen. „Notte Morricone“, mit Ballett der Extraklasse verschmolzen, ist Marcos Morau´s Hommage an einen der größten und bedeutendsten Komponisten der Neuzeit. Gleichzeitig zeichnet der Choreograf das Psychogramm eines Künstlers, dessen Musik von seiner Menschlichkeit durchdrungen war.

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Marcos Morau: „Notte Morricone“ (c) Christophe Bernard

Mit dem finalen Bild, als die Kompanie das von Joan Baez getextete und von Morricone komponierte „Here’s for you“ aus „Sacco und Vanzetti“ von 1971 singt, weist Morau auf die politische Dimension einer jeden humanistischen Persönlichkeit. Wie Ennio Morricone´s „Ich wollte wissen, wie ein Mensch klingt, wenn niemand ihn ansieht“ zeigt uns Marcos Morau mit diesem Meisterwerk ein Bild von einem Künstler, den man so bislang noch nicht (an-) sah.

Marcos Morau und Centro Coreografico Nazionale/Aterballetto mit „Notte Morricone“ am 23.11.2024 im Festspielhaus St. Pölten.

Rando Hannemann

 

 

 

 

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