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ST.PÖLTEN/ Festspielhaus: Emanuel Gat mit „Freedom Sonata“

20.10.2024 | Ballett/Performance

Emanuel Gat mit „Freedom Sonata“ im Festspielhaus St. Pölten

Wie im Kleinen, so im Großen. Dieses metaphysische Prinzip transformiert der israelische Choreograf Emanuel Gat in seiner im Juni dieses Jahres beim Festival de Marseille uraufgeführten und hier als Österreich-Premiere gezeigten „Freedom Sonata“ kongenial in ein Tanzstück. Seine differenzierte Erforschung individueller und gesellschaftlicher Prozesse mündet in die Modellierung lebbarer Alternativen zu heutigen Gemeinschaften.

Emanuel Gat, der mit diesem Stück sein drittes Jahrzehnt als Choreograf vollendet, gründete 2004 seine eigene Compagnie „Emanuel Gat Dance“ in Tel Aviv. Seit 2007 lebt und arbeitet er in Frankreich. Für „Freedom Sonata“, bereits der Titel konstruiert den Konflikt zwischen Freiheit und der strengen Struktur einer klassischen Sonate, wählte er zwei markante und widersprüchliche Musiken, die er ineinander verschränkt einsetzt.

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Emanuel Gat: „Freedom Sonata“ (c) Julia Gat 

Der zweite Satz aus Ludwig van Beethovens letzter Klaviersonate Nr. 32 in c-Moll op. 111 beschäftigt Gat schon länger. Die Pianistin Mitsuko Ushida arbeitet in ihrer Einspielung von 2006 die rhythmische Komplexität der 1821-22 entstandenen Komposition auf faszinierende Weise heraus. Ragtime und Jazz, viele Synkopen und vor allem ein tänzerischer Charakter prägen dieses seiner Zeit weit voraus gewesene Stück. Im krassen Gegensatz dazu Kanye Wests 2016 veröffentlichtes Hip-Hop-Album „The Life of Pablo“. Die Bandbreite der musikalischen und textlichen Attitüden, von selbstherrlicher Egozentrik bis zu schmerzender Unsicherheit, fügt dem Tanzstück neben der auch kontrapunktisch verwendeten Rhythmik eine erzählerische Dimension hinzu.

Mit seinem von ihm selbst gestalteten, dynamischen Beleuchtungskonzept erschafft der Choreograf atmosphärische Zustände und stellt diese dem Stück wie eine eigene Choreografie zur Seite.

Der Tanz der elf TänzerInnen seiner Kompanie modelliert Prozesse in den Psychen und der Gruppe und zeigt, wie sie in ihrem ständigen Streben nach einem wie auch immer gearteten Zustand des Gleichgewichts einer permanenten Veränderung unterworfen sind. Sie eilen immer wieder neuen Autoritäten mit unterschiedlichen Charakteristika nach, geraten auch in Verwirrung ob der Konkurrenz unter ihnen. Jeder entwickelt irgendwann einmal einen Führungsanspruch, legitimiert durch die Festigkeit der eigenen Überzeugungen.

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Emanuel Gat: „Freedom Sonata“ (c) Julia Gat 

Doch die herbeigeführten Zustände sind höchst instabil, weil die Individuen, die diese ständig neu kontextualisierten Gruppen bilden, sich in ihnen und durch sie verändern und entwickeln und somit jeder Ausgleich von Kräften nur einen Augenblick lang anhalten kann. Menschheitsgeschichte und Persönlichkeitsentwicklung im Zeitraffer und auf einer Theater-Bühne konzentriert.

Zudem wird deutlich, wie der Einzelne sein Ich und wie die Gesellschaft sich selbst organisiert. Loslassen und Übertragen von präzise getanzten Bewegungsmustern, rasch und endgültig, erscheinen wie immer schneller wechselnde, vornehmlich viral verbreitete und gepushte Moden und Attitüden. Willkommene individuelle Identifikations-Anker, zeitgeistliche Denk- und Verhaltens-Muster und Futter für jeglichen Gruppen-Narzissmus. Letztlich formen sich darüber und daraus politisch geprägte Gesellschaften mit potenziell toxischer Kraft. Mit seiner Aussage: „Alles was ist, ist von allem anderen, das ist. Nichts ist von sich selbst allein.“ fasst Gat die auf der Metaebene wirkenden dynamisch-dialektischen Beziehungen innerhalb der Choreografie und der Gesellschaft in seine Worte.

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Emanuel Gat: „Freedom Sonata“ (c) Julia Gat 

Der original schwarze Boden wird nach und nach in gemeinschaftlicher Anstrengung mit weißen Tanzboden-Bahnen belegt. Er wird schließlich zu einem weißen Blatt, zu einem alle Möglichkeiten offen haltenden Ausgangspunkt für die Gestaltung einer Gesellschaft. Das Stück endet mit einem Anfang. Dieses weiße Blatt gilt es zu füllen mit Leben, Liebe, Glaube und Wahrheit. In einem parallelen Prozess wechseln sie ihre anfangs weißen Kostüme, die Farbe ist deren einzige Gemeinsamkeit, peu a peu in existenzialisch-schwarze, wiederum individuell gestaltete. Zeugnis einer inneren Wandlung hin zu einer die Verantwortung für sich selbst lebenden, freien Persönlichkeit.

Individuelle und gruppendynamische Prozesse, schnell und in großer Zahl ablaufend, prägen das Bühnengeschehen, scheinen wie ein psychologisches Gerüst um den langsam und iterativ entstehenden Kern: Eine die fundamentalen, konsentierten Werte lebende Gemeinschaft von freien Menschen. Unterschiedliche Persönlichkeits-Entwürfe und individuell ausgeprägte Konzepte von Gemeinschaft werden nebeneinander gestellt.

Niemand wird zurück gelassen. Zweiflern an sich selbst oder am Wertesystem der Gemeinschaft wird ein Weg in diese gewiesen. Empathie, Fürsorge, Zärtlichkeit und Verstehen sind dafür die zentralen Werkzeuge, Akzeptanz und Toleranz die wesentlichen Ziele. Die Spannung zwischen Freiheit und Restriktion oder Ordnung wird nicht aufgelöst. Sie wird mit der Vereinbarung strukturierender Momente zu einer konstruktiven Kraft. Das Ringen um eine Übereinkunft bezüglich der Werte- und Glaubenssysteme führt in maximal mögliche Freiheit des Einzelnen.

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Emanuel Gat: „Freedom Sonata“ (c) Julia Gat 

„I love me!“ Schreit einer der Tänzer in der Mitte des Stückes ins Publikum und fordert es auf, es affirmativ zu wiederholen. Weil die Überwindung jedes Selbsthasses die Wurzel ist für die Überwindung des Hasses jedem Anderen gegenüber. Gat beschreibt damit nicht nur die Ursache kranker Gesellschaften, er weist auch einen Weg in eine Welt, die frei ist von Ablehnung, Ächtung, Diskriminierung, Rassismus und Krieg. Pars pro toto. Die Bühne wird zum Modell, zu einer Utopie.

Der Urgrund, auf dem das Gebäude gesunder Gemeinschaften errichtet werden kann und soll, ist die bedingungslose Selbstliebe eines jeden einzelnen Mitgliedes. Auf dieser Basis treffen sie am Ende – freiwillig – zusammen. Abrupt endet ihr Tanz in dicht gefügter Sammlung. Mit „Freedom Sonata“ gelingt Emanuel Gat ein komplexes, vielschichtiges, fein beobachtetes, psychologisch und soziologisch fundiertes Werk. Zeitlos, aktuell und berührend.

Emanuel Gat mit „Freedom Sonata“ am 18.10.2024 im Festspielhaus St. Pölten.

Rando Hannemann

 

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