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ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: DV8 Physical Theatre mit „Enter Achilles“

15.02.2020 | Ballett/Performance

ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: DV8 Physical Theatre mit „Enter Achilles“

Über die Männlichkeit und die Geister, die sie ruft. Dass der in Australien geborene britische Choreograf Lloyd Newson sein Stück „Enter Achilles“ nach 25 Jahren nochmals, und nun in einer überarbeiteten Version, auf die Bühne bringt, liegt nicht nur an der Einladung von Helen Shute, der Geschäftsführerin des Ballet Rambert.

Der vielfach ausgezeichnete und zu den 100 einflussreichsten Künstlern der letzten 100 Jahre in Großbritannien gewählte studierte Psychologe und Sozialarbeiter und Absolvent der London Contemporary Dance School Lloyd Newson gründete 1985 seine Kompagnie „DV8 Physical Theatre“ (DV8 für „Dance and Video8“ und auch für „deviate“ (abweichen)), mit der er Arbeiten für Bühne und Film entwickelte. Seiner besonderen Beziehung zu Wien und zur heutigen Intendantin des Festspielhaus St. Pölten Brigitte Fürle ist es zu verdanken, dass nach der Uraufführung 1995 bei den Wiener Festwochen, damals war Brigitte Fürle dort Programmdramaturgin, nun im Rahmen einer zweiwöchigen Residency die Premiere der Neubearbeitung in und für St. Pölten vorbereitet werden konnte.


Lloyd Newson: „Enter Achilles“ (3) (c) Miguel Altunaga

Newson wehrte sich immer dagegen, Choreografien zu entwickeln, nur weil ein Tourplan es verlangte, Neues zu bieten. Er arbeitete, weil und wenn er etwas zu sagen hatte. Furchtlos geht Lloyd Newson ins Erzählen von Geschichten, ohne Angst vor Diffamierung als Dummkopf, weil er sich dem Hang und dem Drang vieler Choreografen zur Abstraktion nicht anschloss. „Enter Achilles“ war und ist ein Stück mit Inhalt und Bedeutung, das keiner Deutung bedarf. Die Gegenständlichkeit des Sujets einerseits und die Klarheit seiner Sprache andererseits ergeben ein zwar gut verständliches, keinesfalls aber leicht verdauliches Tanztheater-Stück.

Die Bühne ist ein Pub, in dem sich das männliche Proletariat bei viel Bier, Musik und Fernseh-Fußball trifft. Vor dem, was sich in den kommenden 80 Minuten dort abspielen wird, warnt einer der weltweit gecasteten zehn Performer in einer Ansprache an das Publikum. Die Darstellung von Brutalität und Grausamkeit mögen erschrecken. Doch sie sind nur ein abgeschwächtes Abbild der Realität, wie Lloyd Newson in der Einführung zu diesem Abend und in einem im Programmheft abgedruckten Interview betonte. Weil, zum Beispiel, die von Männern ausgeübte Gewalt in Fußballstadien und nach bedeutenden Spielen und deren Folgen (Tote, Verletzte und immense Sachschäden) nicht ansatzweise auf eine Bühne gebracht werden könnten.


Lloyd Newson: „Enter Achilles“ (2) (c) Hugo Glendinning

Und was bekommen wir zu sehen? Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, Träume von Ganzheit, Authentizität und Angenommen-Werden, zaghaftes Aufbegehren von Sensibilität und Empfindsamkeit, Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit, Traurigkeit und Introvertiertheit. Und alles, was Gefühle und deren Repräsentation betrifft, wird veralbert, verhöhnt, mit Gewalt bekämpft. Rauheit und Rohheit sind die akzeptierten, die dominanten Werte. Männliche Rituale, Zusammenhalt und Wettbewerb, grölende Trunkenheit, springende Hooligans, immer wieder homophobe Ironie und Gewalt, englischer Nationalstolz, Rassismus, Sexismus, Frauenfeindlichkeit, gewähnte Omnipotenz (auch Superman spielt eine Rolle, phantastisch in einer Hochseil-Akrobatik-Nummer mit einem weiteren Performer: Zwischenapplaus), psychisch gestörte, in ihrer Regression oder ihrem Narzissmus gefangene Männer. Und alle Singen: „Love pays the price!“

Die Menge überwacht die Einhaltung der Verhaltens-Normierungen, hinter denen sich – mehr oder weniger – gut versteckt werden kann. Die Diktatur eines tradierten Männlichkeits-Ideals zeitigt ihre Konsequenzen. Emotionale Verkrüppelung erzeugt empathie-reduzierte, auto- und fremd-aggressive Menschen, hier Männer, die mit Alkohol und Gewalt ihre intrapsychischen Spannungen und die Spiegelungen ihrer nicht gelebten, weil von außen nicht akzeptierten und, dem sozialen Druck nachgebend, von ihnen selbst abgelehnten und verdrängten Persönlichkeitsanteile unterdrücken.

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Lloyd Newson: „Enter Achilles“ (4) (c) Miguel Altunaga

Humor und Tragik liegen eng beieinander. Die gnadenlos direkt und trotzdem in oft so poetischen Bildern erzählte Geschichte endet apokalyptisch. In einer Orgie, in der eine Sexpuppe geschleudert, vergewaltigt und letztlich blutig abgeschlachtet wird. „Enter Achilles“ ist hart vorgebrachte, brillant in Szene gesetzte Sozial- und Gesellschaftskritik. Verstörend wirkt die Gewalt, berührend die Zärtlichkeit, erschreckend die Aggression, beeindruckend die Physikalität, gefangen nehmend die Dynamik und Dramatik, überwältigend die Schonungslosigkeit. Die Klugheit und die Unerbittlichkeit, mit der Newson das postmoderne Stereotyp Männlichkeit und dessen Dämone beschreibt und entlarvt, sind einzigartig im zeitgenössischen Tanz. Höchstklassig in der tänzerischen (von klassischen bis Urban- und Street-Dance-Elementen) und darstellerischen Leistung, bleibt „Enter Achilles“ bedeutend. Weil es relevant ist. Die von der BBC verfilmte Version ist seit vielen Jahren Bestandteil von Lehrplänen an Schulen und Hochschulen des Vereinigten Königreiches, was beredtes Zeichen für die anhaltende Brisanz des Stückes ist. Der in den letzten 25 Jahren erstarkte weltweite Nationalismus, die #MeToo-Debatte, der inzwischen vollzogene Brexit geistern durch diese Neubearbeitung.

Rando Hannemann

DV8 Physical Theatre mit „Enter Achilles“ von Lloyd Newson, am 14. Februar 2020 im Festspielhaus St. Pölten.

 

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