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ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Bobbi Jene Smith und das Ballett Basel mit „Marie & Pierre“

19.02.2024 | Ballett/Performance

ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Bobbi Jene Smith und das Ballett Basel mit „Marie & Pierre“

Sie zählt noch nicht zu den etablierten Granden der internationalen zeitgenössischen Choreografie, dennoch zeigt die Tänzerin und Choreografin Bobbi Jene Smith mit ihrem zweiteiligen Abend „Marie & Pierre“ gehörig auf. Neben der Untersuchung der sozialen und psychischen Aspekte des Frau und des Mann Seins gelingt ihr choreografisch und dramaturgisch mit dieser Auftragsarbeit für das Ballett des Theater Basel unter dessen neuer Künstlerischen Leiterin Adolphe Binder, hier als Österreich-Premiere gezeigt, Großes.

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Bobbi Jene Smith und Ballett Theater Basel: „Marie & Pierre“ (c) Jubal Battisti

Diese Koproduktion des Festspielhaus St. Pölten mit dem Theater Basel wurde im November 2023 dort uraufgeführt. Bereits zwei Jahre früher entstand mit dem Royal Danish Theatre das hier in der veränderten Baseler Version gezeigte Stück „Pierre“, wofür Smith erstmalig mit der Komponistin Celeste Oram zusammen arbeitete. Mit einer Aufzeichnung der vom Sinfonieorchester Basel eingespielten, von ihr komponierten und von Tianyi Lu, die erst Anfang 30 ist, dirigierten Orchestermusik mit Klängen speziell angefertigter Instrumente und insbesondere mit live gespielter Violine (Keir GoGwilt), Valentina Dubrovina am Cello und dem Gesang der Tänzerin Alma Toaspern (in „Pierre“ spielt sie auch Klavier) zeichnet Oram zu den getanzten Bildern ihre akustischen. Obertöne auf dem Cello, französische Chansons, ein Virtuose an der Geige und (auch) metallischer Sound aus dem Orchester. Die Musik bring differenziert die emotionale Bandbreite der Choreografie zum Klingen.

Das Bühnenbild von Christian Friedländer stellt „Marie“ in eine düstere, textil-felsige Landschaft, in der sich Breanna O’Mara, lange Jahre Mitglied der Kompanie des Tanztheater Wuppertal und damit kenntnisreiche tanzende Botschafterin des Werkes von Pina Bausch, in ursprünglicher Nacktheit ihren inneren Konflikten stellt. Zwei Männer kämpfen. Sie isst einen Apfel, den der Erkenntnis, den der Vertreibung aus dem Paradies. Durch Bewusstwerdung. Bereits mit diesem ersten von vielen biblischen Zitaten schlägt Bobbi Jene Smith einen feministischen Pflock in den Bühnenboden und markiert damit den Beginn einer schonungslosen Bestandsaufnahme dessen, was Frau Sein heute bedeuten kann.

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Bobbi Jene Smith und Ballett Theater Basel: „Marie & Pierre“ (c) Jubal Battisti

27 TänzerInnen und drei MusikerInnen bevölkern die Bühne in variierenden Konstellationen. Soli, Duette, Gruppen- und Ensemble-Szenen in schnellen Wechseln, Tisch und Stühle als Co-Performer und die Musikanten mittendrin. Der manchmal vorsichtigen, dann wieder leidenschaftlichen, hemmungslos lustvollen Selbsterforschung der Frau wird aggressive männliche Derbheit gegenüber gestellt. Die Frauen leben ihre Lust in allen Spielarten. Sie tanzen sich in Ekstase und Chaos. Männer balancieren Blumen. Ihre Kleidung ist unvollständig. Bei jedem ist irgend etwas nicht perfekt. Die Bilder, oft sieht man die Ästhetik der Pina Bausch, sind auch bei Bobbi Jene Smith Resultat einer radikalen Arbeitsweise: Die Gefühle nach außen stellen.

Und gleich darauf vermeint man die andere künstlerische Mentorin zu sehen. Martha Graham scheint für die folgende Szene Pate gestanden zu haben. Der synchrone Gruppentanz der in Schwarz gekleideten Frauen, dynamisch, kraftvoll, kantig, sprüht ungebremste Sinnlichkeit. In Soli tanzen sie ihre Kraft, ihre Sehnsucht und ihr Verlangen, Aufopferung, Schmerz und Auflehnung, Melancholie und Nonkonformismus und das Freilegen verdrängter Aspekte. Sich anzuschauen tut weh und braucht Mut. Den zeigen sie. Das alte Radio wird wie entmachtete innere Instanzen heraus getragen.

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Bobbi Jene Smith und Ballett Theater Basel: „Marie & Pierre“ (c) Jubal Battisti

Wie „Marie“ nach dem Fallen des grauen Stoffes an Wänden und Boden endet, in einem kalten, wie ein Gefängnis wirkenden Raum, in dem eine Marie von einem sie verachtenden Pierre allein gelassen wird, einsam, zurück geworfen auf sich selbst dasteht und Pierre den Ausgang verschließt, so beginnt „Pierre“. Der Mann, einbetoniert in seine Vorstellungen von sich, Opfer seiner für ihn transparenten Überzeugungen, ringt in seinen Mauern mit den durch andere TänzerInnen repräsentierten Aspekten seines Selbst. Was da wie konflikthafte, kämpferische, den Sieg oder auch Versöhnung wollende Auseinandersetzung mit seiner Umgebung scheint, kann wie eine traumdeuterische Beschreibung seines Seelenlebens gelesen werden.

Pierre erlebt in „Pierre“ eine Apotheose in Form einer auf die Bühne geschobenen riesigen Skulptur, die einen männlichen Löwen zeigt, der einen weiblichen unterwirft. Damit ist das Sujet des zweiten Teils des Abends bildnerisch zusammengefasst. „Pierre“ pendelt schnell zwischen Gewalt und dem Harmonie-Bedürfnis des Mannes, zwischen Nähe und Distanz. Beide sind einsam, Pierre leidet an sich und an seiner Hilflosigkeit in Liebesdingen. Der Freiheitsdrang der Frau wird durch die Männer abgewürgt. Wie zum Abendmahl versammeln sich die Männer um einen Tisch. Verräter an sich selbst sind sie alle. Ballspiele. Viele verschränkte Ebenen gleichzeitig. Macht, Manipulation und Manipulierbarkeit, Animalisches, Regression, erotische Spannungen, Triebhaftigkeit, Anziehung und Abstoßung, Unterwürfigkeit und Unterwerfung, Verstehen und Unverständnis, versuchte Bindung, Schuld. Alles ist voller Widersprüchlichkeiten und Brüche. Und wieder bleibt Breanna O’Mara allein zurück, jetzt im grünen Kleid. Denn er zieht aus in die Welt, um zu erschaffen.

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Bobbi Jene Smith und Ballett Theater Basel: „Marie & Pierre“ (c) Jubal Battisti

Marie ist Leidenschaft, Pierre ist Anklage. So beschreibt Adolphe Binder die beiden Teile. Erinnerungen, Gefühle, Konflikte, alles eingebettet in eine problematische Geschichte von Liebe, Begehren, Macht, Ignoranz und Emanzipation. Vor allem aber untersuchen beide Stücke das gesellschaftlich und psychisch Weibliche und Männliche als Ursache von und Wirkung auf hochkomplexe(n) individuelle(n) Persönlichkeits-Strukturen und soziale(n) Beziehungs-Mechaniken. Archetypen und über Generationen vererbte geschlechtsspezifische Rollen- und Verhaltensmuster prägen die beiden zentralen Figuren, die nicht festgelegt sind auf eine Tänzerin, einen Tänzer. Was Marie und Pierre unterscheidet? Sie hat bereits integriert, was er noch in sich ablehnt. Marie ist wie eine Gegenspielerin oder Abtrünnige, die sich einem das Weibliche oder das Frau Sein definierenden patriarchalen Umfeld bestmöglich zu entziehen versucht, letztlich aber dem Konformitätsdruck, wenigstens teilweise, erliegt.

Ihre neun Jahre währende Mitgliedschaft in der legendären Batsheva Dance Company, aus der auch Sharon Eyal und Hofesh Shechter hervorgegangen sind, rückt Bobbi Jene Smith spürbar in deren Nähe. Was Menschen bewegt als zentrales Sujet verbinden die drei. Trotzdem erweist sich Smith als sehr eigene Choreografin. Sie schichtet in „Marie & Pierre“ viele Ebenen übereinander, verschränkt die Bilder zeitlich und inhaltlich und erzeugt so ein realitätsnahes Abbild des intrapsychischen Gemenges aus Erlebtem, Erfahrenem und Momentanem und dessen bidirektionale, wirkmächtige Beziehung mit dem Außen.

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Bobbi Jene Smith und Ballett Theater Basel: „Marie & Pierre“ (c) Jubal Battisti

Ihre Bewegungs- und Bildsprache referenziert unverkennbar und nicht nur nicht nur angedeutet auf Pina Bausch und Martha Graham. Immer wieder findet man sich in deren Universen wieder, gebrochen jedoch und durchwirkt mit zeitgenössischen und klassischen Elementen. Großartig der Tanz der Kompanie, mit präzisem Timing und voller Hingabe, kraftvoll und sinnlich, mitreißend und voller Identifikationsanker und Projektionsflächen.

Der Abend ist das Werk von Frauen. Vielleicht auch daher ist „Marie“ das zeitlich und choreografisch ausladendere, feiner gezeichnete. „Pierre“ wirkt konzentrierter, fokussierter. Beide Stücke sind äußerst dicht, mit multiplen Handlungssträngen und -Ebenen und dramaturgisch beeindruckend gestaltet. Es sind viele Identitäten, viele Beziehungen unterschiedlichster Couleur, Triggerpunkte en masse und die von vielen TänzerInnen verkörperte Aspekte eines weiblichen und eines männlichen Seelenlebens, mit dessen fein beobachteter Komplexität, Diversität, Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit spiegelnd konfrontiert zu werden zu einer verstörenden Herausforderung für das Publikum werden kann. Aber gerade das macht diesen Abend so wertvoll.

Bobbi Jene Smith und das Ballett Basel mit „Marie & Pierre“ am 17.02.2024 im  Festspielhaus St. Pölten.

Rando Hannemann

 

 

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