ST. PÖLTEN/ Festspielhaus: Adam Linder . Ethan Braun . Solistenensemble Kaleidoskop mit „Tournament“
Der 1983 geborene australische Choreograf und Tänzer Adam Linder, jetzt in Berlin und Los Angeles lebend, holte sich für sein im März dieses Jahres auf dem Hamburger Kampnagel uraufgeführtes Stück „Tournament“ den in Los Angeles lebenden Komponisten Ethan Brown an Bord. Dessen eigens hierfür komponierte Musik spielt das Berliner Solistenensemble Kaleidoskop live auf der Bühne. Es entsteht eine einzigartige Tanz-Konzert-Performance.

Adam Linder . Solistenensemble Kaleidoskop: „Tournament“ (c) Jubal Battisti
Eine Stufen-Pyramide dominiert das Bühnenbild von Ana Filipović, visuelles, assoziatives und performatives Zentrum dieses „Turnier“s (so der Titel auf deutsch) mit den Kontrahenten Tanz und Musik. Deren uralte Beziehung untersuchen die fünf Tänzerinnen und Tänzer Olivia Ancona, Nina Botkay, Paxton Ricketts, Dominic Santia und Juan Pablo Camara, allesamt exzellent, und die nicht minder hochklassigen fünf Musikerinnen Anna Faber, Isabelle Klemt, Yodfat Miron, Mari Sawada und Boram Lie (letztgenannte ist die künstlerische Leiterin des 2006 gegründeten Emsembles).
Das insgesamt 13-köpfige Solistenensemble Kaleidoskop kollaboriert international mit Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlichster Sparten. Die Komposition von Ethan Brown bedient bestens, was das experimentelle Musiktheater des Ensembles will und was Linders Sujet für dieses Tanzstück vorschlägt: Ein Spielfeld zu schaffen für das Zusammentreffen von Tanz und Musik, mit sich ständig ändernden, immer neu zu erfahrenden Spielregeln und in Geist und Herz offenen Akteuren.
Die Musikerinnen sind auch Performerinnen. Ihren Arbeitsplatz auf den Stufen der Pyramide verändern und verlassen sie mehrfach. Gemeinsam mit den fünf Tanzenden hinterfragen sie die so oft postulierte eherne Einheit von Tanz und Musik. Die Interaktion zwischen beiden wird zu Dialog und Kommentar, zu Vereitelung und Kontrapunkt. Die Führungsrolle stellen sie auf den Prüfstand so wie Machtverhältnisse und Kooperation.

Adam Linder . Solistenensemble Kaleidoskop: „Tournament“ (c) Jubal Battisti
Initiative oder Folgen, Hierarchie oder Team, Freiheit oder Ordnung, Synchronizität oder Parallelität, Linearität oder Serialität, Dominanz oder Unterwerfung, Selbstbehauptung oder Selbstgewissheit, Überlegenheit oder sensibles Miteinander? Verhandelte Fragen eines die künstlerischen und performativen Archetypen dekonstruierenden Stückes. Und aus den Trümmern entsteht ein Katalog von vielfältigen Beziehungs-Mustern, beispielhaft in seiner Kreativität, Offenheit und Komplexität.
Das rhythmische und melodische Mit- und Gegeneinander der Streicher-Stimmen findet sich im Tanz, wenn auch oft zu unerwartbar anderer Zeit. Sie erzählen, das Stück hat keine Geschichte, mit einer Folge von momentanen Konstellationen, teils durch Blackouts gestört, von Konkurrenz und Kongruenz, von symbiotischen und parasitären Verhältnissen, von Spielern und Gegenspielern, Harmonie und Disharmonie. All das in Musik und Tanz und zwischen diesen.
Das Bewegungsmaterial ist erfrischend vielseitig, verbindet Elemente des klassischen Balletts mit zeitgenössischem Tanz und Urban Dance, von den fünf Tanzenden mit beeindruckender Präzision und Ausdruckskraft präsentiert. Diese fünf sind Meister ihres Fachs. Mit ihren Herkünften aus verschiedenen Kontinenten und Kulturkreisen und ihrer bereits Jahrzehnte langen Erfahrung als Tänzer bringen sie Individualität und Ensemble-Fähigkeit gleichermaßen mit in dieses Stück.

Adam Linder . Solistenensemble Kaleidoskop: „Tournament“ (c) Alexandra Polina
Den Raum dafür gibt ihnen die kraftvolle Choreografie. Die analysiert Strukturen, zerlegt sie in ihre Einzelteile, setzt diese jenseits aller Gepflogenheiten neu zusammen, erzeugt Stimmungen nur, um sie zu brechen, verwischt die Grenzen zwischen Tanzenden und Musizierenden, lässt gegeneinander antreten, vereinzelt, was bald darauf vereint agiert: Rhythmus, Stimmen, Tanzende, Musizierende, Geste und Klang.
Sie zelebrieren das Begräbnis eines Cellos, das für seine eigene Beisetzung auch noch selbst spielt. Und somit seine eigne Grube gräbt. Ohnmächtig schauen bestens ausgebildete und um ihren Fleiß betrogene Musikerinnen und Musiker zu, wie elektronische Musik und künstliche Intelligenz zu wachsender, ihre Existenz bedrohender Konkurrenz werden. Dass menschengemachte Kunst mit Intuition und Sensibilität unersetzbare Qualitäten aufweist, verliert, weil nur den Feinsinnigen ein Wert, an Bedeutung.

Adam Linder . Solistenensemble Kaleidoskop: „Tournament“ (c) Jubal Battisti
Um so schätzenswerter ist, was der Komponist von den fünf Musikerinnen genau diesbezüglich für ihre Live-Performance fordert. Seine Komposition für fünf Streicher, zwei Celli und drei Geigen, taucht ein in die instrumentalen, rhythmischen und harmonischen Möglichkeiten zeitgenössischer Musik, erweitert deren Grenzen sehr spezifisch und führt durch ungewohnte, neuartige und vor allem hoch energetische Klang-Ereignisse. Durchsetzt mit elektronischer Musik entsteht ein konzertanter Tanz-Abend voller unterschiedlicher Atmosphären und überraschender akustischer Wendungen.
Harmoniesüchtige allerdings brauchen Kraft. Wenn zum Beispiel fünf Streicher ganz dicht, aber eben nur nah beieinander liegend einen lang anhaltenden Ton erzeugen und sehr langsam auseinander streben, wird für manch einen im Publikum Wohlklang zum Sehnsuchtsort. Dieses und andere akustische Bilder nimmt der Tanz auf, so wie choreografische Strukturen Beispiel für musikalische sind.

Adam Linder . Solistenensemble Kaleidoskop: „Tournament“ (c) Jubal Battisti
Mit „Tournament“, hier als Österreich-Premiere gezeigt, stellt Adam Linder ein weiteres Mal seine Innovationskraft überzeugend unter Beweis. Das Stück ist tänzerisch, musikalisch, visuell und dramaturgisch ungemein fesselnd. Die Tanzenden bestechen mit Ausdrucksstärke, Präzision und tänzerischer Klasse, Choreografie und Komposition mit ihrer erneuernden Kraft und Frische, und die Musikerinnen mit dem technischen und künstlerischen Niveau ihrer Performance.
„Tounament“ erhebt die Spannung im Imperfekten zur ästhetischen Kategorie und mit ihr Vielfalt und Neugier zu Fundamenten einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Virtuos. Spektakulär. Herausragend.
Adam Linder . Ethan Braun . Solistenensemble Kaleidoskop mit „Tournament“ am 05.12.2025 im Festspielhaus St. Pölten.
Rando Hannemann

