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ST. PETERSBURG/ Mariinsky-Theater zu den „Weißen Nächten“: LE NOZZE DI FIGARO, PIQUE DAME, TANNHÄUSER, BORIS GODUNOV

12.07.2019 | Oper

St. Petersburg: Das Mariinsky-Theater zu den Weißen Nächten (6. – 9.7.2019 )

In meinem ersten Porträt Valery Gergievs aus dem Jahre 1993 schrieb ich, er würde sich sämtliche Sänger selber anhören, die von seinem Talentscout, dem Komponisten Alexander Tchaikovsky, vorgeschlagen wurden. Tempi passati! Natürlich segnet der Vielbeschäftigte die Besetzungen ab, doch de facto werden sie von einem „Collegium“ bestimmt, dem außer dem Operndirektor Grigory Yakerson und der „Grauen Eminenz“, dem Dirigenten Leonid Korchmar, die Konzertmeister und -innen des Hauses angehören – vergleichbar den Studienleitern, jedoch nicht für das gesamte Repertoire, sondern nur für Teile davon zuständig. Wenn man sich den Spielplan mit den Besetzungen ansieht, gibt es unübersehbar Soboleva- oder Mishuk-Besetzungen; ohne jeden Zweifel verdienstvolle Konzertmeisterinnen mit langjähriger Erfahrung, die jedoch eine Gruppe von Sängern um sich scharen, ohne dass andere Künstler genauso zum Zuge kommen. Sicherlich gibt es diese Freunderl- oder Günstlingswirtschaft auch an anderen Häusern, doch am Mariinsky-Theater scheint sie mir besonders ausgeprägt zu sein.

In den von mir am Ende dieser Saison besuchten Aufführungen konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Gremium oft ohne Rücksichtnahme auf die menschliche Stimme zu fatalen Besetzungsentscheidungen gekommen ist. So sang im russischen „Figaro“ eine Sängerin die Contessa, die sonst als Shostakovichs Katerina Ismailova angesetzt ist. Die „Tannhäuser“-Venus hatte 3 Tage später im italienischen „Figaro“ die Contessa zu singen. Eine junge attraktive Mezzosopranistin mit einer der schönsten Stimmen dieses Faches heutzutage setzte man innerhalb von 4 Tagen als Polina, Marina (ihr Debüt!) an. Höhe- bzw. Tiefpunkt war der arme Sänger, der an zwei aufeinander folgenden Tagen „Pique Dame“-Hermann und Tannhäuser singen musste!!! Das ist Raubbau an der menschlichen Stimme! Man sollte sich nicht so sehr an Valery Gergiev orientieren, der er liebt, 5 Konzerte pro Tag (!) zu dirigieren!!!

Die 4 von mir besuchten Vorstellungen hinterließen einen irritierenden Eindruck: „Le nozze di Figaro“ in russischer Sprache (6.7.), „Pique Dame“ (7.7.), „Tannhäuser“ (8.7.) und „Boris Godunov“ (9.7.) – Aufführungen von absoluter Weltklasse bis hin zu Wiedergaben, die weit unter dem Niveau dieses Theaters waren. In seinem ureigenen Metier, der russischen Oper, ist das Mariinsky-Theater immer noch mustergültig, am besten abzulesen an der bewegenden Wiedergabe von „Boris Godunov“ im historischen Mariinsky. Herausragend YEVGENY NIKITIN in der Titelrolle, dem ein ebenso stimmlich wie darstellerisch eindringliches Porträt gelang. Wenn ich diesen Sänger auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Leistungsfähigkeit höre, bedaure ich von Neuem, dass der Holländer in Bayreuth wegen des „Tattoo“-Skandals an ihm vorüber ging. Zum Glück schadete dieser Vorfall seiner internationalen Karriere nur kurz. Pimen war MIKHAIL PETRENKO, und ich musste daran denken, dass ich beide, Nikitin als Ramfis und Petrenko als König, Anfang Januar 1999 erstmalig hörte. Während Nikitin (mir) schon damals auffiel, blieb Petrenko mir wenig im Ohr haften. Gleicher Eindruck nun nach mehr als 20 Jahren. Ansonsten war es ein Ensemble 20+ bzw. sogar 25+. Soll heißen, es standen Sänger auf der Bühne, die auf eine Zugehörigkeit zum Mariinsky-Theater von mehr als 20 Jahren oder sogar 25 Jahren zurückblicken können. YURI LAPTEV (Shchelkalov), GENNADY BEZZUBENKOV (Varlaam), NIKOLAI GASSIEV (Missail), NADEZHDA VASSILIEVA (Xenias Amme), YEVGENY AKIMOV (Shuisky), OLGA SAVOVA (Schankwirtin), doch bis auf den komischen, aber im Volumen doch schon reduzierten Bezzubenkov war nichts an diesen „Oldies“ auszusetzen. Wie Akimov so ist auch SERGEY SEMISHKUR (Grigory) Besitzer eines Stimmtyps, der früher für typisch russisch gehalten wurde: sehr (zu) weiß. Bei aller Qualität nicht ganz mein Geschmack. Der sonst so hervorragende ANDREY POPOV gab als Gottesnarr ein bisschen zu viel Stimme, als dieser Partie guttut, und die von mir sehr geschätzte ANASTASIA KALAGINA sollte als Xenia jüngeren, frischer klingenden Stimmen Platz machen. Zwei junge Stimmen, die in kleineren Rollen aufhorchen ließen: YELENA GORLO (Fyodor) und YURI VLASOV (Nikitich/Hauptmann). EDEM UMEROVs Rangoni klang raustimmiger und mit mehr „wobble“ versehen, als von ihm gewohnt.


Yevgeny Nikitin als Boris Godunov (Foto: Nadine Koul)

Gespannt war ich auf das Debüt der jungen YEKATERINA SERGEYEVA als Marina, und sie erfüllte alle Erwartungen. Verführerisch in Ausstrahlung und Stimme, machte sie deutlich, warum der falsche Dmitry ihr verfallen musste. Ihr Mezzosopran verfügt über einen ausgesprochen sinnlichen Klang, und sie kannte keinerlei Mühe in allen Registern dieser Partie. Mit Yekaterina Sergeyeva ind Yuliya Matochkina kann das Mariinsky-Theater sich glücklich schätzen, zwei ebenbürtige und gleichwertige Nachfolgerinnen für die große Olga Borodina zu besitzen, die nur noch vereinzelt auftritt. Es wäre allerdings wünschenswert, wenn das Management etwas mehr Rücksicht auf diese junge Sängerin (nicht nur auf diese) nimmt. Nach einem Marina-Debüt sollte man einer Stimme Ruhe gönnen und nicht gleich am nächsten Abend einen Cherubino ansetzen. Den Rang der Aufführung machte auch das Dirigat STANISLAV KOCHANOVSKYs aus, der sich von den vielen Haus-Kapellmeistern des Theaters dadurch unterschied, dass er sich nicht der Bühne unterwarf, sondern die Aufführung „leitete“. Kein Wunder, dass er eine internationale Karriere macht.


Yekaterina Sergeyeva nach ihrem Debüt als Marina (Foto: Nadine Koul)

„Pique Dame“ am 7.7. war eine gute Wiedergabe dieser Oper, wenn auch keine außergewöhnliche. Zu einer außergewöhnlichen fehlten ihr zwei unverzichtbare Ingredienzen: ein Dirigent (wie Valery Gergiev) und ein Sing-Schauspieler wie Vladimir Galouzine. PAVEL SMELKOV ist einer jener Dirigenten, die verlässlich den Takt, aber leider keine Funken schlagen, und MIKHAIL VEKUA, die Allzweck-Tenorwaffe des Mariinsky von Faust bis Siegfried, ist einer jener Sänger, über die sich jedes Opernhaus freuen sollte: jederzeit einsatzbereit, jederzeit mit voller Stimme dabei, doch nicht vom Genius Galouzines geküsst. Neu für mich war die Gräfin ELENA VITMANs, die man nur selten in größeren Rollen (ausgenommen Amme, Klytämnestra) erleben kann. Stimmlich tadellos, fehlte ihr das Quäntchen Ausstrahlung, das von einer Bogacheva, Diadkova etc. ausgeht. IRINA CHURILOVA (Lisa) klang müder, in der Höhe angestrengter als sonst; Probleme, wie man auch bei YEKATERINA SERGEYEVAs Polina hören konnte (zwei Tage vor ihrem Marina-Debüt). ROMAN BURDENKO ist mit seinem mächtigen und doch so geschmeidigen Bariton immer zuverlässig, ob als Yeletsky oder wie hier als Tomsky. Ob es eine gute Wahl ist, VLADIMIR MOROZs Kavaliersbariton auch solche Rollen wie Montfort in „Vespri Siciliani“ zu geben, möchte ich einmal dahingestellt lassen. Seinem Yeletsky fehlte es etwas an lyrischer Geschmeidigkeit. Nach wie vor erschließt es sich mir nicht, warum VIOLETTA LUKYANENKO (Prilepa) sich beim Management des Mariinsky so großer Beliebtheit erfreut. Hübsch aussehend, eine Soubrettenstimme, der es an Fülle und Rundung fehlt, von technischen Problemen ganz abgesehen.

Das Mariinsky-Theater hat im Spielplan zwei verschiedene Produktionen von Mozarts „Le nozze di Figaro“, eine (auf Italienisch) im historischen Haus, die andere (auf Russisch) szenisch in der Konzerthalle. Es muss eine Art von Masochismus sein, das mich immer wieder in eine der beiden Produktionen gehen lässt. Oder ist es das Interesse an bestimmten Sängern? Jedenfalls würden beide in der Klamauk-Olympiade um den Sieg streiten. Unter der Leitung des Gergiev-Neffen ZAURBEK GUGKAEV war die Besetzung bestenfalls als durchwachsen zu bezeichnen. Eine Contessa (YEKATERINA SOLOVYOVA), der man gepeinigt anhört, dass Shostakovichs Killer-Rolle Lady Macbeth von Mtsensk zu ihrem Repertoire gehört, eine Susanna (KARINA CHEPURNOVA), als Gast vom hiesigen Musical-Theater, eine Soubrette, mehr eine Augen- als eine Ohrenweide, EVELINA AGABALAEVA mit einer, wie eine österreichische Sängerin einmal boshaft formulierte, „freundlichen Stimme“ (= sie winkt ins Publikum), eine Graf (SERGEY ROMANOV), wie man im Russischen sagt, normal = weder gut noch schlecht, eine outrierende Marcellina (IRMA GIGOLATY), die vor fast 20 Jahren einmal zu den großen Hoffnungen am Mariinsky gehört hatte, aber nicht aufgebaut, sondern (wie viele andere auch) nur benutzt wurde, und ein Bartolo (PAVEL SHMULEVICH), der verstehen sollte, dass Bartolo anders gesungen werden sollte als Hagen. Pikantes Detail am Rande: Don Basilio wurde von einem Sänger gesungen, der vor einigen Jahren einen Sonderpreis für seinen Cosi-Ferrando in Perm errungen hatte, am Mariinsky aber als Charaktertenor eingesetzt wird (STANISLAV LEOONTIEV). Einzig VADIM KRAVETS (Figaro) und PELAGEYA KURENNAYA (Barbarina) retteten die Ehre des Mariinsky.

Wie bekannt, feiert VALERY GERGIEV, der allmächtige Herrscher des Mariinsky, in wenigen Tagen sein Debüt bei den Bayreuther Festspielen, und das mit einem Werk, das für ihn neu ist, Wagners „Tannhäuser“. Wer Gergiev kennt, war nicht überrascht, dass er sein Mariinsky-Theater als Probebühne dafür benutzen würde. So führte er bei seinem Moskauer Oster-Festival diese Oper aktweise konzertant auf und ließ für St. Petersburg eine szenische Produktion erstellen. Warum diese nicht auf der neuen Bühne, sondern (allerdings szenisch) in der Konzerthalle herauskam, entzieht sich meiner Kenntnis. Es könnte sein, dass die Planung dafür zu kurzfristig war, um das Werk in den Spielplan von Mariinsky II einzubauen. Vielleicht hat ihm aber auch gefallen, wie fantasievoll das Team um Regisseur VYACHESLAV STARODUBTSEV Rimsky-Korsakovs Einakter „Mozart & Salieri“ und „Der unsterbliche Kashchey“ den Bedingungen der Konzerthalle eingepasst hatte. Valery Gergiev hatte die Premiere am 1.6. sowie die Reprisen in identischer Besetzung geleitet, das Dirigat der Aufführung am 8.7. dem US-Hausdirigenten CHRISTIAN KNAPP überlassen, der – ich gehe bestimmt nicht fehl in der Annahme – auch die Einstudierung geleitet hatte. An diesem Abend sang die zweite Besetzung, die (um es einmal milde auszudrücken) einige Fragezeichen bei mir hinterließ. Es fing gut an. In diesem Saal, der nicht für Opern, schon gar nicht dieses Formats, konzipiert worden war, formte Knapp eine klangschöne Ouvertüre mit folgendem Bacchanal. Das Unheil begann mit den ersten solistischen Tönen. TATIANA PAVLOVSKAYA, trotz der großen Unruhe in der Stimmführung eigentlich eine interessant timbrierte Stimme, versuchte, ihrer Stimme das Venus-Format durch offene Tonformung und Vokalverfärbungen abzutrotzen, und ließ mich fragen, ob jemand mit ihr an der Diktion gearbeitet hatte. Ihrem Tannhäuser MIKHAIL VEKUA konnte man keine schlechte Diktion vorwerfen (er arbeitete vor seinem Mariinsky-Engagement in Deutschland), auch nicht, dass er nicht zu hören war oder gar (wie berühmte Vorgänger) gespart hätte. Ganz im Gegenteil. Vekua sang mit einer Kraft und Lautstärke, als habe er nicht am Vorabend den Hermann in „Pique Dame“ gesungen, als ob nicht noch zwei Akte vor ihm liegen. Leider war auch zu den Minnesängern und dem Landgrafen noch nicht vorgedrungen, dass man Wagner auch singen kann, ihn nicht bellen muss. Ein Wolfram (PAVEL YANKOVSKY), dem mit seinem Reibeisentimbre jegliche Geschmeidigkeit abging, wie auch die raue Klangfarbe VLADIMIR FELIAUERs, wenn er Wotan singt, an Hans Hotter erinnern mag, damit aber für den Landgrafen weniger geeignet ist. Da ich nach dem 1. Akt ob des vorherrschenden BELLKANTOS die Segel strich, war es mir nicht vergönnt, MLADA KHUDOLEY als Elisabeth zu hören – eine Sieglinde, Salome, Abigaille als Elisabeth! Ich weiß, Leonie Rysanek sang alle diese Rollen, aber sollte dies die Norm sein?

Das Mariinsky ist heutzutage eine Fabrik, die Aufführungen „ausspuckt“. Zu den Weißen Nächten zeitgleiche Vorstellungen im historischen Mariinsky, in der neuen Bühne, in der Konzerthalle sowie in den der Kammermusik gewidmeten kleineren Sälen, und das während Gergiev mit „seinem“ Orchester tourt. Ist es ein Wunder, wenn dann die Qualität auf der Strecke bleibt?

Sune Manninen

 

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