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ST. PETERSBURG/ Mariinsky-Theater: Valery Gergiev und das Mariinsky auf Anti-Corona Kurs – Ein Bericht aus sicherer Entfernung

04.08.2020 | Oper

Valery Gergiev und das Mariinsky auf Anti-Corona Kurs – Ein Bericht aus sicherer Entfernung

Vorweg – dies ist kein Bericht aus erster Hand, nicht aus St. Petersburg, denn ebenso wie die Grenzen der EU derzeit (noch) für Russen gesperrt sind, dürfen auch EU-Bürger nicht nach Russland einreisen. Doch das Internet ermöglicht gute Einblicke, ohne selber vor Ort sein zu müssen.

Für Valery Gergiev war schon am 13. März in New York Schluss. An den nächsten beiden Abenden fielen sowohl der Fliegende Holländer an der MET als auch ein Konzert mit den New Yorker Philharmonikern aus. Sein Mariinsky-Theater in St. Petersburg spielte noch einige wenige Theater weiter, wobei sich am 14. März die pikante Situation ergab, dass Rodion Shchedrins Oper Lolita 2x angesetzt war, nachmittags und abends, in zwei verschiedenen Besetzungen. Doch wurde erst kurzfristig bemerkt, dass Petr Sokolov, der am Abend Humbert Humbert, die männliche Hauptrolle, singen sollte, gerade aus Italien zurückgekehrt war, sich also noch in Quarantäne begeben musste. So hatte Vladimir Moroz die heroische Aufgabe bewältigen dürfen, diese lange und schwierige Partie (zumal bei seinem Debut) sowohl am Nachmittag als auch am Abend übernehmen zu dürfen. Ein Hoch auf die Planung des Mariinsky!

Doch nach den letzten Vorstellungen am 17. März wurden auch die 3 Bühnen des Mariinsky geschlossen, die historische Bühne, das neue Haus und die Konzerthalle – bis zum 20. Juni, als Gergiev als Versuchsballon im Neuen Haus eine Operngala dirigierte. Wenige Tage leitete er zwei Konzerte der Münchner Philharmoniker in München, wie es hieß, mit einer Sondergenehmigung, die ihm die Einreise in die EU erlaubte. Doch die war eigentlich nicht vonnöten, besitzt Gergiev doch auch die ihm von der niederländischen Königin verliehene Staatsbürgerschaft dieses Landes. Noch im selben Monat dirigierte er ein italienisches Jugendorchester in einem Open-air-Konzert bei Muti-Festival in Ravenna.

Während die Pforten des Mariinsky gesperrt waren, gab es einen sehr willkommenen Service: Auf Mariinsky.TV und auf You Tube wurden (und werden weiterhin) Opern- und Ballettaufführungen sowie Konzerte „gestreamt“, und das kostenlos. Nicht zu vergessen sei auch die Tatsache, dass die Mitarbeiter des Hauses, und damit sind alle, auch die Künstler, gemeint, ihr Gehalt / ihre Gage weiterhin empfingen, wenn auch nicht in vollem Umfang.

Am 7. Juli ging es dann los, zuerst auf der Neuen Bühne mit konzertanten Aufführungen mit auf 90 Minuten gekürzter Spieldauer, ohne Pause. Die ersten beiden waren Iolanta (hat sowieso die benötigte Länge) und Trovatore sowie ein Konzert mit Denis Matsuev als Solisten. Wie man bei der Iolanta-Ûbertragung sehen konnte, waren Chor und Orchester recht ausgedünnt; bei den Streichern waren die Pulte nur einfach besetzt. Die Solisten bemühten sich um Abstand zueinander. Etwa eine Woche später gab es die ersten Konzerte in der Konzerthalle. In dieser Zeit, in der am Mariinsky wieder gespielt wurden, fielen Gergievs auswärtige Verpflichtungen aus: sein Festival im finnischen Mikkeli sowie Verbier, Baden-Baden und das Pacidic-Festival.

Waren die Opern anfangs konzertant, gekürzt und mit kleiner Besetzung zu spielen, so wurde man in dem von Woche zu Woche verkündeten Programm wagemutiger: Fliegender Holländer, Aida, Boris Godunov sind schon mit Risiko behaftete Opern mit großem Aufwand, bei der es schwierig ist, die Corona-Bedingungen einzuhalten. Auch das Orchester ging Ende Juli erstmalig auf Tour, 2 Konzerte in Ravenna und Ravello, also ausgerechnet im vom Coronavirus stark betroffenen Italien. Werke mit kleinerer Besetzung ermöglichten es, den erforderlichen Abstand einzuhalten.

Am 1. August öffnete auch die historische Bühne wieder, mit einem vom Chef selber dirigierten Rigoletto (keine Ahnung, ob dies sein Rigoletto-Debüt war) und mit Olga Peretyatko als Gilda, die einst im Kinderchor des Mariinsky gesungen hatte. In der Konzerthalle wurde man nun wagemutiger und führte zunächst konzertant Werke auf, die als szenische Einstudierung vorgesehen waren / sind: Rimsky-Korsakovs Snow Maiden, Tchaikovskys Maid of Orléans und (welch‘ Wagemut) Szenen aus Wagners Meistersingern, der Oper, die Gergiev noch in seiner Sammlung gefehlt hatte.


Maid of Orléans: Abstand zwischen Ekaterina Semenchuk und Vladislav Sulimsky??? (Foto: Tatiana Mashchenko)

Und das Publikum? Ich bin nicht genau informiert, wie viele Zuschauer den Vorstellungen beiwohnen dürfen, aber auf den Fotos bzw. Ûbertragungen sind im Zuschauerraum große Lücken zu sehen. Masken müssen getragen werden (im Orchester habe ich keine gesehen). Wer das Theater betritt, bei dem wird die Temperatur gemessen (das Moskauer Bolshoi-Theater kündigte gerade an, dass Zuschauer mit mehr als 37 Grad Temperatur nicht zugelassen werden). Davon ganz abgesehen, ist der finanzielle Aspekt dieses Anti-Corona-Unternehmens interessant. Da keine ausländischen Touristen nach Russland einreisen dürfen, muss das Theater auf die Einnahmen aus den traditionell stark erhöhten Eintrittspreisen für die Ausländer verzichten, so dass zu vermuten ist, dass man mit diesen Aufführungen keinen Gewinn machen wird. Wenn Gergiev einmal sagte, dass das Mariinsky seinen Gewinn zu Hause macht (das war noch zu Zeiten, als die Präsenz in China und Japan nicht so stark war), dann halte ich die Öffnung des Theaters mehr für ein Zeichen, um der Welt zu demonstrieren: „Wir leben noch! Schaut auf Russland, was hier alles möglich ist!“

Wenn man auf http://www.mariinsky.today/ geht, so sieht man die weiteren Pläne Gergievs, sowohl mit seinem Theater als auch mit den Münchner Philharmonikern. In Vladivostok, der fernöstlichen Dependance des Theaters (bekannt als Mariinsky IV!), werden großformatige Werke wie Feuriger Engel, Don Carlo, Meisersinger-Szenen gespielt. Mit den Münchner Philharmonikern und dem eigenen Orchester geht er auf Tournee; in Baden-Baden soll es Salome geben. Und selbst sein Rotterdam-Festival in den von Corona derzeit stark heimgesuchten Niederlanden soll stattfinden, zu veränderten Terminen, mit verändertem Programm und mit 2 Konzerten pro Abend (wegen der verringerten Zuschauerzahl).


Aida (Foto: Nadine Koul)

Um es auf den Punkt zu bringen: Diese ganzen Aktivitäten lassen mich recht ratlos. Ist Gergiev ein Corona-Leugner? Ist er ein Hasardeur, der mit der Gesundheit seiner Mitarbeiter spielt? Ich bin nicht ganz sicher, ob in Putins Russland an die Öffentlichkeit dringen würde, hätte sich ein Künstler oder anderer Mitarbeiter mit dem Virus infiziert. Verständlich, dass niemand sich diesem Unternehmen zu widersetzen scheint, denn die Sänger haben derzeit keine Auftrittsmöglichkeiten außerhalb Russlands, ganz abgesehen davon, dass Wunsch und Wort des Mariinsky-Zaren Gesetz sind.

Sune Manninen

https://slippedisc.com/2020/08/russian-media-large-number-of-covid-cases-at-the-mariinsky/

 

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