ST.P ÖLTEN/ Festspielhaus: Marcos Morau und das Ballet Nacional De España mit „Afanador“: Das dunkle Feuer des Flamenco
Zum Auftakt der Saison 2025/26 programmierte die künstlerische Leiterin des Festspielhauses St. Pölten Bettina Masuch mit „Afanador“ gleich einen Kracher, der eine Reihe von Stücken höchstrangiger ChoreografInnen einleitet. Gleich drei Mal wird der spanische Stern der internationalen Tanz-Szene Marcos Morau in dieser Spielzeit nach Niederösterreich kommen. Nach dieser Hommage an den Fotografen Ruvén Afanador werden Anfang März 2026 sein „Romeo + Julia“ und im Mai „Folkå“ (als Teil eines Doppelabends mit „Wir sagen uns Dunkles“ von Marco Goecke) zu sehen sein.

Marcos Morau und das Ballet Nacional de España: Afanador (c) Merche Burgos
Im November 2024 tanzte das italienische Aterbaletto Moraus „Notte Morricone“. Jetzt erarbeiteten er und fünf Co-ChoreografInnen gemeinsam mit dem Ballet Nacional De España einen Flamenco-Abend, inspiriert von den Fotografien des kolumbianischen Meisters der Portrait- und Flamenco-Fotografie Ruvén Afanador. Dessen in schwarz-weiß abgelichtete Installationen binden die Pole Vertrautheit und Geheimnis sowie Intimität und Expressivität.
Der Komposition des in seinen Bildern gefrorenen Tanzes stellt Marcos Morau mit „Afanador“ eine choreografische Komposition von wie erwachten Stillleben als szenische Folge zur Seite, begleitet von elektronischem Sound (von Juan Cristóbal Saavedra) und zeitweise live gesungener und per Gitarre gespielter traditioneller Flamenco-Musik. Die aufwändig gestaltete, sehr dynamisch sich verändernde Bühne, eine riesige drehbare Rückwand zum Beispiel wird zu Gerüst und weißer Wand mit Balkon hoch oben, stammt von Max Glaenzel.

Marcos Morau und das Ballet Nacional de España: Afanador (c) Merche Burgos
Den langen Reigen getanzter Bilder stellt Bernat Jansà mit seinem feinen Lichtdesign in verschiedenste, dennoch meist düster-schattige Stimmungen. Farben bringt sein Licht nicht. So wie die Kostüme. Schwarz ist die dominierende Nicht-Farbe, kontrastiert nur vom Weiß der Haut. Silvia Delagneau (Kostüme) empfand für dieses Stück gemeinsam mit einem Team für Perücken, Kopfschmuck, Frisuren, Make-Up und Schuhe den Kosmos der Afanadorschen Ästhetik für das Äußere der Vielen auf der Bühne nach.
Das Surreale der Fotografien prägt nicht nur das Styling der 30 TänzerInnen. Eine Fülle von Objekten und Requisiten in oft überdimensionierten Ausmaßen würzen mit feinem Humor das Dunkle des Sujets. Einer Kiste entsteigt ein Überraschungsgast. Der Flamenco-Tänzer und Choreograf und seit 2019 künstlerische Leiter des Ballet Nacional De España Rubén Olmo zeigt in einem fantastischen Solo, warum er diese Position bekleiden kann.

Marcos Morau und das Ballet Nacional de España: Afanador (c) Merche Burgos
Immer wieder tauchen Fotografen auf, für im Fotostudio gestellte oder für live fotografierte Szenen. Blitzlichter. Die Menge umringt einzelne aus ihr Herausgehobene. Körper werden zu Rhythmus-Instrumenten. Gleich zu Beginn tanzt das Ensemble in breiter Reihe hinter dem nur die Beine freigebenden Vorhang wie ein Perkussions-Orchester.
Es gibt keine Geschichte. Aber viele Geschichten, die in schneller Folge, fließend ineinander gleitend, erzählt werden. Liebe, Leidenschaft und Erotik (Irene Tena und Albert Hernández tanzen als GasttänzerInnen ein so kraftvoll-expressives wie berückendes Duett), Trauerzeremonie, Stierkampf, Fotostudio, Theater oder Erntefest, verschiedene Situationen werden mit traditionellen Gesängen und/oder elektronischer Musik und Tänzen ungemein lebendig. Die Kraft des Tanzes, die Wucht der Emotionen, die Authentizität der auch mimischen Darstellung sind einzigartig.

Marcos Morau und das Ballet Nacional de España: Afanador (c) Merche Burgos
Selbstbewusstsein tritt neben eine dunkle Melancholie, Kraft und Würde neben Fragilität, Leidenschaft neben Angst, Tumult neben Selbstreflexion, Sterben und Tod neben Lebensfreude, Tradition neben Moderne, Erinnerung neben Traum und das Erleben des Jetzt. Fotografie wird zu Tanz. Die große Bandbreite von Gefühlen wird beschattet von etwas Düsterem, Geheimnisvollen, das zuweilen auch skurril, wenn zum Beispiel die so Flamenco-typischen klassischen Geschlechterbilder ad absurdum geführt werden, aus den Tiefen dieser Menschen auf die Bühne drängt. Womit Marcos Morau das Klischee der so lebensfrohen, stolzen Andalusier mit neuen, anderen Facetten anreichert und hinterfragt.
Der Respekt, mit dem sich der Fotograf und der Choreograf dem Flamenco, seinen TänzerInnen und insgesamt der Kultur Andalusiens nähern, ist der Schlüssel für die Verschmelzung von Tradition und Moderne, Flamenco und zeitgenössischem Tanz und von lärmenden Oberflächen und zarten, aber machtvollen Innenwelten zu einer so organischen, kraftvollen Einheit.

Marcos Morau und das Ballet Nacional de España: Afanador (c) Merche Burgos
Das Stück entwickelt eine ganz eigene, faszinierende und bis zum Ende fesselnde Ästhetik. Als einer Tänzerin vom hoch oben installierten Balkon ihre Rapunzel-langen Haare herunter hängen, zeichnet parallel eine Video-Animation einem unten an der weißen Hauswand stehenden Tänzer jene riesigen schwarzen Krallenhände, die eines der vielen ikonischen Bilder Afanadors zu Unvergesslichem machen. Arabische Klänge und chinesische Sprache zeugen von globalen Einflüssen und kultureller Offenheit in Vergangenheit und Gegenwart.
In dem hier als Österreichische Erstaufführung präsentierten, eindreiviertel Stunden langen Stück „Afanador“ wird dem Publikum mit herausragendem Tanz, ganz besonderen Kostümen, hochklassiger Live-Musik und solcher vom Band, mit fantastischem Lichtdesign und einer immer wieder überraschenden Bühne nicht nur die verfremdende Fotografie-Kunst des Ruvén Afanador nahegebracht. Es ist gleichzeitig ein distanziert sezierender Blick in die Seelen einer Region, ihrer Menschen, ihrer tief verwurzelten Kultur und Geschichte. Auch mit deren dunklen, schmerzvollen Kapiteln, die sich eingebrannt haben in das kollektive Selbst.

Marcos Morau und das Ballet Nacional de España: Afanador (c) Merche Burgos
Marcos Morau und das meisterlich tanzende Ballet Nacional De España senden mit „Afanador“ Andalusiens und Spaniens Leidenschaft, Kraft, Genauigkeit, Schönheit und Tiefe in die Welt. Ein unvergleichliches, berührendes, mitreißendes, wuchtiges, opulentes, bildgewaltiges, teils verstörendes, mithin rauschhaftes Flamenco-Spektakel! Mit stehenden Ovationen bedankte sich ein euphorisiertes Publikum.
Marcos Morau und das Ballet Nacional De España mit „Afanador“ am 26.09.2025 im Festspielhaus St. Pölten.
Rando Hannemann

