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SOLOTHURN/Stadttheater: TANCREDI von Gioacchino Rossini:

01.12.2022 | Oper international

Gioacchino Rossini: Tancredi • Theater Orchester Biel Solothurn, Stadttheater Solothurn • Vorstellung: 30.11.2022

(16. Vorstellung • Premiere am 16.09.2022)

Ko-Produktion mit der Opéra Rouen de Normandie

 Ein Belcanto-Fest

Die Produktion von Rossinis «Tancredi» am Theater Biel Solothurn (TOBS) macht unmittelbar nachvollziehbar, wieso nach der Uraufführung im Jahr 1813 das Rossini-Fieber ausbrach. Und sie zeigt exemplarisch, wie sich ein Regisseur einbringen kann, ohne in das Werk einzugreifen und sein Ego ostentativ in den Vordergrund zu stellen.

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Photo © Suzanne Schwiertz

Pierre-Emmanuel Rousseau (Inszenierung, Bühne und Kostüme) hat gemacht, was heute nur noch wenige seiner Zunft machen und viele machen sollten: das Libretto gelesen und ernst genommen. Rousseau lässt das Stück wie vorgegeben im Mittelalter spielen. In einem abstrahierten, schwarzen Bühnenraum inszeniert er die Handlung gemäss Libretto und lässt den Solisten Raum ihren Rollen zu gestalten. Dabei verfällt Rousseau nicht dem Zwang, heutigen Sehgewohnheiten zu verfallen. Er sieht Tancredis Misstrauen gegenüber seiner Geliebten Amenaide nicht als Unstimmigkeit, als Unwahrscheinlichkeit, die er klären müsste, sondern als Folge von Tancredis traumatischer Vorgeschichte. Die mutmassliche Ermordung von Tancredis Vater und seine Verbannung zeitigen ihre Folgen. Die Vermutung, dass Tancredi Amenaide, wenn überhaupt, nur aus frühen Kindertagen kennt und er das Verhältnis theoretisch im Sinne des mittelalterlichen Minnesangs (er liebt nicht die Person sondern die Idee die Person zu lieben) sieht, ist angesichts von Tancredi Empathie-Defiziten durchaus plausibel. Amenaides Vater Argirio erinnert, hin- und hergerissen zwischen seiner Position als Souverän der Stadt und Vater, an die Vaterfiguren Verdis. Ungeahnt intensive Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich hier im Konflikt mit Orbazzano, der als «Warlord», er trägt als einziger Panzerungen und seine langen Haare offen, angelegt ist. Tancredi hingegen tritt so elegant auf, dass man sich fragt, ob er jemals ein Schlachtfeld gesehen hat. Amenaide, ganz Belcanto-Heroine, liebt Tancredi wirklich und kämpft um ihn. Hier leidet sie ausgiebig, bis Tancredi seinen Irrtum erkennt. Schon fünfzehn Jahre später wäre sie wahnsinnig geworden. Den Chor als Klerus anzulegen, passt zu Rousseaus stimmigem und schlüssigem Konzept. Liest der Regisseur das Libretto und nimmt es ernst, kann er sich, ohne letztlich gegen das Werk zu arbeiten, einbringen.

Das musikalische Charakteristikum von «Tancredi» ist, dass Rossini hier die Opera seria revolutionierte, ohne die Form anzutasten. Er füllte neuen Wein in alte Schläuche: Die Kunstfiguren der menschlichen Stimme werden integraler Bestandteil der Melodie und die Szene durch Einschränkung der Rezitative ausgeweitet, das Orchester durch Concertati und Crescendi aufgewertet. Und diese Neuerungen wie die ganze Partitur an sich setzt das Sinfonieorchester Biel Solothurn unter Leitung von Francis Benichou mustergültig um. Der Vorteil beider Theater, Biel wie Solothurn, ist ihre Intimität (jeweils um die 250 Sitzplätze), die dem Zuhörer das Gefühl direkt im Orchestergraben zu sitzen, vermitteln kann. Selten erlebt man Oper so intensiv und im Falle der Crescendi steigert sich die Intensität natürlich. Rossinis Musik perlt mitreissend aus dem Graben und entwickelt uneingeschränkt das für sie typische Brio. Die Farben der verschiedenen Register kommen, ob in solistischen Passagen oder in den Tutti, bestens zur Geltung. Wie immer hat auch diesmal Valentin Vassilev den Herrenchor TOBS einstudiert.

Candida Guida gibt mit ihrem virtuosen Mezzo einen emotional äusserst intensiven Tancredi. In Sachen Bühnenpräsenz kann ihr an diesem Abend niemand das Wasser reichen. Lara Lagni ist ihr mit ihrem herrlichen Koloratursopran eine absolut würdige Partnerin. Beide Stimmen harmonieren prächtig. Die Entdeckung des Abends ist Remy Burnens als Argirio. Sein Tenor ist absolut höhensicher, kraftvoll und dennoch elegant, wendig und technisch perfekt geführt. Jean-Philippe Mc Clish verkörpert mit kernigem, vollen Bass den Kriegsherrn Orbazzano. Annina Haug und Oscar Rey ergänzen das superbe Ensemble als Isaura und Roggiero.

Ein Belcanto-Fest!

Aufführungsdaten Biel: Mi. 28.12.2022, 19:30; So. 22.01.2023, 17:00.
Aufführungsdatum Solothurn: So. 04.12.2022, 17:00.

Auswärtige Vorstellungen: Mi. 25.01.2023, 19:00; Fr. 27.01.2023, 19:00; Sa. 28.01.2023, 19:00; jeweils im Theater Winterthur.

03.12.2022, Jan Krobot/Zürich

 

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