Der seligste Schlupfwinkel in einer gespaltenen Welt: Lohengrin in Sofia am 23. Juni 2023
Was Max Reinhardt in seiner Rede über den Schauspieler (gehalten 1928 an der Columbia University in New York) so kompromisslos postuliert hat, bewahrheitet sich auf der Opernbühne von Sofia. Der Generaldirektor der Sofioter Oper, Plamen Kartalov, weiß offensichtlich – im Gegensatz zu vielen Regisseurinnen und Regisseuren, die sich dem Regietheater verpflichtet haben – was Max Reinhardt in seiner Rede 1928 prophezeit hatte: „Das Heil kann nur vom Schauspieler kommen, denn ihm und keinem anderen gehört das Theater.“
Die 950 Zuschauerinnen und Zuschauer im 1953 erbauten Haus, denen hier nach fast 60 Jahren seit 1958 erstmals wieder das berührende, 1850 uraufgeführte Werk Richard Wagners gezeigt wurde, sollten einen ganz besonderen Singschauspieler erleben.
Den setzte der Hausherr offensichtlich ganz gezielt ein, denn er war der einzige „Mensch mit echten Gefühlen“ auf der Bühne der Staatsoper. Kartalovs Konzept dieses Lohengrin war also anscheinend eine gespaltene Welt: In deren einen Teil im Glanz agieren schauspielerisch offensichtlich wie Marionetten funktionierende Opernsänger auf der von Hans Kudlich geschaffenen Bühne mit beeindruckenden Lichtkompositionen von Zach Blane als Lohengrin, König, Heerrufer, Elsa, Gottfried und als deren aller Gegenspielerin Ortrud, die selbst Marionette bleibt, wohl aber alle Fäden zieht.
Thomas Weinhappel als Telramund. Foto: Svetoslav Nikolov-Chapi
In dem anderen, dunklen Teil, „der leibhaftige Mensch“, Telramund, Ortrud völlig ausgeliefert – dargestellt vom charismatischen Singschauspieler Thomas Weinhappel aus Österreich mit nicht enden wollender Energie, Emotion und fesselnder Ausstrahlung. Er „lebt“ Telramunds abgrundtiefen Fall vom angesehenen, gesellschaftlich höchst etablierten Grafen zum Vogelfreien mit so viel Zorn, Schmerz, so viel Trauer bis hin zur Apathie. Ein Vollblutschauspieler zeigt in Mimik und Gestik, wie absolute Hoffnungslosigkeit und – als ihm Ortrud einen fiktiven Weg aus der Verzweiflung zeigt – Hoffnung, sich rehabilitieren zu können, aussehen. Er ist das Abbild vieler Zeitgenossen, die in einer auf Glanz, Ansehen, Erfolg, Geld und Macht zentrierten Welt von anderen manipuliert werden und trotz aller Bemühungen wie ein Hund leidend zu Grund gehen.
Das Konzept ging auf, war neu, überraschend und stimmig. Regisseur Kartalov zeigte, was Oper ohne durch bloßes Regietheater entfremdet zu werden, transportieren kann. Weinhappel verblüffte nicht nur durch darstellerisch filmreife Qualitäten, sondern auch gesanglich mit dynamischer, mächtiger Stimme in Höchstform, die auch im Piano beeindruckt.
Thomas Weinhappel, Gabriela Georgieva. Foto: Svetoslav Nikolov-Chapi
Durch die Verknüpfung dieser beiden Talente nimmt man ihm vom ersten Augenblick an den vom Wert der Ehre tief zerfressenen Grafen ab, wenn er dem König dafür dankt, dass dieser kam, um der Welt ihre scheinbar gerechte Ordnung wieder zu geben („Dank König dir“) und ebenso potent mit größter Bühnenpräsenz und Vehemenz Rechtfertigung von Lohengrin verlangt („Den dort im Glanz“). Seine erschütternde Fassungslosigkeit, als er den Zweikampf mit Lohengrin verliert, ist ebenso authentisch wie seine alle Grenzen sprengende Verzweiflung im 2. Akt, mit der er wunderbar höhensicher beklagt, dass er seine „Ehre, all seinen Ruhm“ verloren hat. Nie scheint ein Mann tiefer gesunken zu sein! Mit unglaublich vielen stimmlichen Schattierungen zeichnet Weinhappel den Geächteten der aus dem Glanz verstoßen wurde. Sein Drohen gegenüber Ortrud bei „betrügst du jetzt mich noch, dann weh dir! Weh!“ könnte Furcht einflößender nicht sein. Dass er in dieser – wie allgemein bekannt besonders schwierigen – Rolle debütiert, mag man nicht glauben, dass er zur Zeit einer der besten Telramunde ist, hingegen sofort.
Neben ihm auf der Bühne – wie in einer anderen Welt und unnahbar, aber von der Regie gewollt steif agierend – Simon O’Neill aus Neuseeland als Lohengrin, Bjarni Thor Kristinsson als König, Atanas Mladenov als Heerrufer, Radostina Nikolaeva als Elsa und Gabriela Georgieva als Ortrud.
Gralserzählung: Simon O’Neill. Foto: Svetoslav Nikolov-Chapi
Der Titelheld, verkörpert von Simon O’Neill, der 2010 mit dem Lohengrin in Bayreuth debütiert hat, sang bisher an allen großen Bühnen der Welt, von der Met über die Covent Garden, die Scala, Berlin, Wien, München, Salzburg und Paris. Das merkt man ihm an, denn da kommt der strahlende Gralsritter höhensicher und akkurat, gespickt mit den herrlichsten Piani singend, wie es nur einer kann, der aus „Glanz und Wonne“ kommt. Von der Verabschiedung des Schwans („Nun sei bedankt, mein lieber Schwan“) über das Frageverbot („Nie sollst du mich befragen“) bis zur Brautgemachszene („Atmest du nicht mit mir die süßen Düfte“) im 3. Akt steht da jeder Zoll ein Opernsänger, der mit den von der Regie gewollten stereotypen gefühllosen Operngesten sein außerordentliches stimmliches Können präsentiert.
Für die Gralserzählung, in der er mit seiner makellosen Stimme zur Höchstform aufläuft und imponierend an große Vorgänger wie James King erinnert, erklimmt er den blätterlosen, absterbenden, in der Bühnenmitte stehenden Baum, der nach Lohengrins Verschwinden in zwei Teile zerfällt – ein weiteres Symbol der gespaltenen Welt. Zwischen den beiden Hälften des toten Baumes erscheint Gottfried, der totgeglaubte Bruder Elsas, Gottfried als Symbol der Hoffnung auf eine neue Welt, in der Männer wie Telramund nicht untergehen müssen.
Atanas Mladenov zeigt sich als stimmlich beeindruckender, in Mimik und Gestik aber regiekonform ebenso unnatürlicher, hölzerner Heerrufer, der seinem ebenfalls regiegemäß verkrampft sich bewegenden König alle Ehre macht. Heinrich den Vogler, singt der isländische Bass Bjarni Thor Kristinsson zwar imposant, leider aber nicht frei von Intonationsschwierigkeiten und zuweilen auch höhenunsicher. Radostina Nikolaeva zufolge der Regie als kalte und blutleere Elsa, die zwar der Rolle entsprechend pflichtschuldigst mehrere Male, aber trotzdem emotionslos zusammenbricht, schafft keinen Moment den Vergleich mit den großen Vorbildern Cheryl Studer, Gundula Janowitz, Karan Armstrong oder Anja Harteros. Ihre große, scharfe, prägnante aber keineswegs zarte Stimme scheint hier musikalisch fehl am Platz. Als ungemein höhensichere Ortrud vervollständigt Gabriela Georgieva dasbulgarische Ensemble. Als Bindeglied zwischen den kalten Charakteren zu ihrem Gatten Telramund, darf Georgieva schauspielerisch wenigstens zeitweise Emotionen zeigen. Ihre ungemein große Stimme verfügt über außerordentliches Können, wenn sie erstaunliche Höhen mit beeindruckender Kraft aber auch leiseste Piani singt.
Anna Kaiser