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SOFIA/Nationaloper: CARMEN im Schicksalskreis als antike Tragödie

17.03.2025 | Oper international

Carmen im Schicksalskreis als antike Tragödie an der Nationaloper Sofia

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Rose Naggar-Tremblay (Carmen). Copyright by Opera Sofia and Ballett

Die Schatten der antiken Tragödie fielen über die Bühne der Nationaloper Sofia, als sich der Vorhang für Georges Bizets „Carmen“ hob. Der Abend des 15. März 2025 versprach nicht nur eine ungewöhnliche Vorstellung, sondern eine tiefgründige Reflexion über Schuld, Schicksal und die unentrinnbare Tragik einer Frau, die für ihre Freiheit den höchsten Preis zahlt. Plamen Kartaloffs Inszenierung verließ die ausgetretenen Pfade traditioneller Deutungen und tauchte das Werk in die Atmosphäre der antiken Tragödie, in der der Chor nicht nur kommentierendes Element, sondern eine allgegenwärtige, übermenschliche Kraft war.

Im Zentrum der Inszenierung stand der von Miodrag Tabachki entworfene Bühnenraum – eine stilisierte Arena, die den Schauplatz der unausweichlichen Tragödie markierte. Hier war keine realistische Szenerie zu sehen, keine schmutzigen Tavernen oder schwelenden Schmugglerverstecke. Stattdessen dominierte eine kreisförmige Spielfläche, die sowohl als Kampfring als auch als Ort der Vorherbestimmung diente. Umgeben war sie von drei amphitheatralischen Tribünen, auf denen sich der Chor – in der Tradition der griechischen Tragödie – als kollektive Stimme des Schicksals formierte.

Das Lichtdesign von Andrej Hajdinjak verstärkte die suggestive Kraft der Inszenierung. Anfangs von warmen, erdigen Tönen durchzogen, wurde die Szene im Laufe des Abends immer stärker von scharf geschnittenen Lichtkontrasten geprägt. Am Ende, als Carmen ihrem Schicksal entgegentrat, stand sie in einem eng gefassten, scharf umrissenen Lichtkegel – ringsum Dunkelheit, aus der nur Don José heraustrat, sein Gesicht gezeichnet von Verzweiflung und Wahnsinn.

Die Kostüme von Hristiana Michaleva-Zorbalieva folgten diesem stilisierten Ansatz und verbanden Elemente der Antike mit der Symbolik des NOH-Theaters. Carmen wirkte wie eine Naturgewalt, die sich jeder Einordnung entzog. Don José trug eine abstrahierte Militäruniform, die seine innere Zerrissenheit widerspiegelte, während Escamillo nicht als bloßer Torero, sondern als Verkörperung von Leben, Glanz und Verführung.

Ein bemerkenswertes Element dieser Inszenierung war der intensive Einsatz von Tänzerinnen und Tänzern, die weit über die Funktion eines dekorativen spanischen Kolorits hinausgingen. Sie waren nicht nur Teil des Spektakels, sondern verkörperten die inneren Kräfte der Figuren, ihre Ängste, Sehnsüchte und ihr unaufhaltsames Hinstreben auf das Verhängnis. Ihre Bewegungen waren von einer expressiven, rituellen Körperlichkeit geprägt, die sowohl an das antike griechische Theater als auch an das NOH-Spiel erinnerte. Besonders eindrucksvoll war die choreografische Gestaltung der Schmugglerszene im zweiten Akt: Tänzer und Sänger verschmolzen zu einer pulsierenden Masse, die sich in immer wiederkehrenden Kreisbewegungen um Carmen drehte – als sei ihr Schicksal längst besiegelt, während sie sich noch in vermeintlicher Freiheit wiegte.

Auch in der Stierkampfszene des vierten Akts wurde der Tanz zu einem erzählerischen Mittel. Hier war es kein realistisches Bild eines Stierkampfs, sondern eine rituelle Darbietung, in der Bewegung und Musik die Unausweichlichkeit des Todes symbolisierten. Escamillo stand nicht allein für den Triumph des Toreros, sondern für eine Macht, die Carmen bereits entglitten war.

Zhorzh Dimitrov führte das Orchester mit stilistischer Sicherheit, die den Kern von Bizets Musik in all ihren Farben und Schattierungen einfing. Die ersten Takte des Vorspiels erklangen mit federnder Leichtigkeit und pulsierendem Rhythmus. Dimitrov ließ Bizets Partitur atmen – mit weit gespannten Bögen, aber auch mit plötzlichen, scharf gezeichneten Kontrasten. Die Streicher flirrten in schattenhafter Eleganz, die Holzbläser leuchteten in hellen, schimmernden Farben. Die Blechbläser waren präsent, aber nie aufdringlich, das Schlagwerk präzise und markant. Besonders die dynamischen Nuancen waren eindrucksvoll: ein Crescendo, das sich wie ein brodelnder Vulkan aufstaute, um dann doch nur eine entschwindende Spur einer Erinnerung zu sein.

Der Chor, ein elementarer Bestandteil dieser Inszenierung, zeigte sich in glänzender Form. Unter der Leitung von Violeta Dimitrova (Erwachsenenchor) und Tanya Lazarova (Kinderchor) bot er eine beeindruckende stimmliche Homogenität und überzeugende Ausdruckskraft. In dieser Lesart war der Chor nicht nur eine Gruppe singender Nebenfiguren, sondern ein allgegenwärtiger Kommentator, ein Schicksalschor mit uniformen Masken, der mit wuchtigen, archaisch anmutenden Klangblöcken das Geschehen wie aus einer anderen Sphäre begleitete.

Rose Naggar-Tremblay in der Titelrolle war eine verführerische Femme fatale, deren Gesang zwischen unbändiger Lebenslust und der Ahnung des unausweichlichen Endes wechselte. Ihre Stimme besaß eine dunkle, erdige Wärme, die sich in den sinnlichen Phrasen der Habanera verführerisch verströmte, um dann in den dramatischen Ausbrüchen der späteren Akte schneidende Intensität anzunehmen. Sie spielte Carmen nicht als launische Verführerin, sondern als eine Frau, die ihr Schicksal mit klarsichtiger Konsequenz annimmt – eine selbstbewusste Außenseiterin, gefangen in der Vorbestimmung ihres Untergangs. Stimmlich zeigte sie große Souveränität, insbesondere auch in den interpolierten hohen Noten.

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Rose Naggar-Tremblay (Carmen(, Emmanuel Hasler (Don José). Copyright by Opera Sofia and Ballett

Emmanuel Hasler als Don José verkörperte die Zerrissenheit seiner Figur mit brennender Intensität. Er lebte seine Rolle mit voller Intensität und zeichnete einen starken Charakter. Hasler ist kein Schönsänger, sondern ein Charaktergestalter. Sein Tenor gewann in der Eifersuchtsraserei des dritten Akts an metallischer Schärfe, um im Finale endgültig zu zerbrechen. Seine „Blumenarie“ wurde mit einer schmerzlicher Innigkeit gesungen, während die Auseinandersetzung mit Carmen in der letzten Szene von einer erschütternden Direktheit war. Haslers Stimme trug diese Entwicklung in jeder Nuance – von der ersten schüchternen Annäherung bis zum verzweifelten Finale. Seine Risikobereitschaft, stimmlich ans Limit zu gehen, verlieh seiner Rolle zusätzliche Glaubwürdigkeit.

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Deyan Vatchkov (Escamillo). Copyright by Opera Sofia and Ballett

Deyan Vatchkov gab Escamillo eine Aura müheloser Selbstgewissheit. Sein kerniger, geschmeidiger Bariton verlieh der berühmten „Toréador“-Arie eine mitreißende Energie, ohne ins vordergründig Heroische abzudriften. Seine Bühnenpräsenz war von beeindruckender Lässigkeit, sein Timbre leuchtete in sattem, bronzenem Glanz. Vatchkov spielte Escamillo als unantastbare Figur – ein Mann, der sich seines Status voll bewusst ist und dessen Faszination für Carmen weniger aus echter Leidenschaft als aus einem natürlichen Machtgefühl erwächst.

Silvia Teneva als Micaëla war das emotionale Gegenstück zu Carmen. Ihre Stimme leuchtete mit einer klaren, silbrigen Reinheit, die im Duett mit Don José eine anrührende Zartheit entfaltete. Besonders ihre große Arie im dritten Akt und die flehende Bitte an José, zu seiner Mutter zurückzukehren – waren von aufrichtiger Innigkeit.

Svetozar Rangelov als Zuniga verlieh der Figur eine markante Autorität, sein dunkler Bass strömte mit fester Präsenz durch den Raum. Mikhail Motailenko als Moralès setzte mit seiner flexiblen Stimme klangliche Akzente, während Krassimir Dinev (Le Remendado) und Anton Andreev (Le Dancaïre) als verschmitzte Schmuggler mit spielerisch abgestimmter Phrasierung überzeugten. Alexandrina Stoyanova-Andreeva als Mercédès und Maria Pavlova als Frasquita verliehen ihren Partien mit ihren Stimmen Leichtigkeit und setzten damit schimmernde Kontraste zu Carmens dunklem Timbre.

Das Publikum, zunächst fasziniert von der ungewohnten Bildsprache, ließ sich zunehmend von der Sogkraft dieser Inszenierung erfassen. Am Ende – nach dem fatalen, mit unerbittlicher Konsequenz gestalteten Duell zwischen Carmen und José brandete der Beifall in Wellen durch das Opernhaus. Es war kein bloßer Applaus für eine gelungene Aufführung, sondern die Anerkennung eines Abends, der Musik und Theater auf eine archaische, beinahe mythische Ebene gehoben hatte.

Dirk Schauß, 18. März 2025

 

Georges Bizet – „Carmen“ an der Nationaloper Sofia am 15. März 2025

 

 

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