SOFIA/ Nationaloper: Adriana Lecouvreur und die Ehrung einer Legende
Giuseppe Infantino, Vittoria Yeo. Copyright by Svetoslav Nikolov-Chapi
Am 17. Januar 2025 erlebte die Opernwelt einen außergewöhnlichen Abend in Sofia: Anlässlich des 90. Geburtstags der legendären Operndiva Raina Kabaivanska widmete die Sofia Oper und Ballett eine Neuproduktion von Francesco Cileas „Adriana Lecouvreur“ dieser herausragenden Künstlerin. Vier ihrer Meisterschüler kamen zusammen, um ihre bemerkenswerten Karrieren zu feiern und die Strahlkraft ihrer Mentorin zu ehren. Ein Abend, der gleichermaßen als Hommage an eine unvergessliche Persönlichkeit und als Beleg für die nachhaltige Wirkung ihrer Lehre diente.
Julia Krasteva bewies mit ihrer klassisch-historischen Regie ihr feines Gespür für das Werk. Sie bewahrte dessen Essenz, während sie die theatralische Dimension kunstvoll betonte. Ihre Personenführung verlieh den Charakteren bemerkenswerte Vielschichtigkeit: Adriana erschien als leidenschaftliche, verletzliche Künstlerin, während Maurizio zwischen Machtstreben und echter Gefühlswelt schwankte. Die Prinzessin de Bouillon faszinierte durch ihre dunkle Präsenz und intensive Darstellung der komplexen Intrigen. Die Gruppenszenen waren musikalisch und choreografisch präzise inszeniert, wodurch die Handlung eine starke Geschlossenheit erhielt. Emil Dinkovs meisterhafte Lichtgestaltung bereicherte das Geschehen visuell: Stimmungsvolle Nachtbilder in Blau und Violett sowie dramatische Lichtakzente bei Adrianas Todesszene verliehen der Aufführung eine zusätzliche emotionale Tiefe. Alfredo Troisis opulentes Bühnenbild mit Marmorsäulen und prächtigen Vorhängen sowie Vesna Radovics historische Kostüme vervollkommneten die eindrucksvolle Inszenierung.
In den Hauptrollen begeisterten die vier Meisterschüler von Raina Kabaivanska:
Vittoria Yeo (Adriana Lecouvreur) verlieh der Titelpartie mit ihrem leuchtenden Sopran und ihrer dramatischen Intensität eine außergewöhnliche Präsenz. Die südkoreanische Sopranistin, die sich an renommierten Häusern wie der Mailänder Scala und der Wiener Staatsoper einen Namen gemacht hat, zeigte eine beeindruckende Kombination aus technischer Finesse und vokaler Hingabe. Besonders in Adrianas Arie „Io son l’umile ancella“ offenbarte sie eine tiefe Emotionalität, gepaart mit zarter Klangsensibilität. Ihre Phrasierung war von großer Musikalität geprägt, und ihre Fähigkeit, zwischen pianissimi und dramatischen Höhepunkten farblich zu variieren, zog das Publikum in ihren Bann. Yeo verkörperte Adriana als eine Frau, die sich zwischen Liebe und Kunst entfaltet, mit fast physisch spürbarer Leidenschaft.
Giuseppe Infantino (Maurizio) beeindruckte mit einem geschmeidigen Tenor und bemerkenswerter Höhensicherheit. Der junge Sizilianer, der bereits an renommierten Bühnen wie der Mailänder Scala gastierte, überzeugte besonders in der Arie „La dolcissima effigie“. Hier fand er eine ideale Balance zwischen Zärtlichkeit und Heroismus. Seine Phrasierung war von präziser Leichtigkeit geprägt, und selbst in den dramatischen Momenten bewahrte er die lyrische Schönheit seines Timbres. Störend war jedoch gelegentlich die leichte Verfärbung der Vokale in den Höhen, was den Gesamteindruck etwas beeinträchtigte.
Vittoria Yeo, Veronica Simeoni. Copyright by Svetoslav Nikolov-Chapi
Veronica Simeoni (Prinzessin de Bouillon) brachte mit ihrem kraftvollen, vollen Mezzosopran die dunklen Facetten ihrer Figur eindringlich zur Geltung. Ihre Interpretation war bestimmt von einer faszinierenden Mischung aus Macht und Verzweiflung, die durch ihre dynamischen Akzente und facettenreiche Stimmfarben unterstrichen wurde. Besonders in den Intrigenszenen und Momenten der Eifersucht schuf Simeoni eine beklemmende Intensität, ohne die menschliche Verwundbarkeit der Figur aus den Augen zu verlieren.
Hae Kang (Michonnet), der südkoreanische Bariton, verlieh der Rolle des Theaterdirektors eine berührende Menschlichkeit. Mit seiner warmen, fein nuancierten Stimme zeichnete er ein sensibles Porträt des treuen Freundes Adrianas. Besonders in der Arie „Ecco il monologo“ überzeugte er durch eine bewegende Mischung aus Zuneigung und Verzweiflung, die durch seine präzise Phrasierung und den melancholischen Unterton seiner herrlichen Stimme intensiviert wurde. Ein Sänger mit Zukunft!
Auch die Nebenrollen waren hervorragend besetzt: Stefan Vladimirov (Fürst de Bouillon) zeichnete sich durch markante Bühnenpräsenz und kraftvollen Bass aus. Hrisimir Damyanov (Abbé de Chazeuil) überzeugte mit feiner Charakterzeichnung und charmantem Spiel. Das Ensemble wurde durch Angel Hristov (Quinault), Silvana Pravcheva (Mlle Jouvenot), Alexandrina Stoyanova-Andreeva (Mlle Dangeville) und Angel Antonov (Poisson) gelungen abgerundet.
Der Chor der Sofia Oper und Ballett beeindruckte durch Präzision und ein beeindruckendes Klangspektrum. Besonders in den groß angelegten Gruppenszenen verlieh er der Inszenierung eine imposante musikalische Wucht. Das Orchester unter der Leitung von Francesco Rosa glänzte mit einer feinen Klangkultur. Rosa führte mit schwebender Leichtigkeit durch Cileas melodische Tiefen, wobei er ein exzellentes Gleichgewicht zwischen Sängern und Orchester wahrt. Die warmen Streicherklänge und die dynamischen Akzente der Bläser trugen wesentlich zur atmosphärischen Dichte der Aufführung bei.
Ensemble. Copyright by Svetoslav Nikolov-Chapi
Die Aufführung von „Adriana Lecouvreur“ war ein würdiges Geschenk zu Ehren von Raina Kabaivanska. Die gelungene Inszenierung, das künstlerische Spitzenensemble und die bewegende musikalische Interpretation hinterließen einen nachhaltigen Eindruck. Es war nicht nur ein Fest für Opernliebhaber, sondern auch ein berührender Beweis für die unvergängliche Kunst und das Vermächtnis einer großen Primadonna.
Dirk Schauß, 18. Januar 2025
Francisco Ciléa
„Adriana Lecouvreur“ in der Nationaloper Sofia am 17. Januar 2025